„Der längste Tag“

Wahrscheinlich ein Mittwoch; solche Dinge passieren immer mittwochs. 

Vielleicht ein Freitag. 

Zunächst gab es keine Zeichen von Gefahr. Die üblichen Geräusche der Maschinen, die unter Hochlast arbeiten, die Rührbehälter, die Abschäumer, die Autoklaven. 

Tingo stand an seinem Arbeitsplatz, weitgehend allein. Die anderen waren draußen, genossen ihre Brote und den lauernden Wechsel der Jahreszeiten. Jeder rechnete mit der kühlen Faust des Herbstes, und eher früher als später. Tingo brauchte kein Brot. Er aß kein Brot. Er brauchte weder Jahreszeiten noch Draußensein. Er wollte einfach mit seinen Justierungen fertig werden. 

Normalerweise fühlte er sich in der ersten Jahreshälfte so, wenn der Winter nicht nachließ und der Frühling nichts verbesserte. 

Seine Hände kamen ihm alt vor. Er wäre lieber zu Hause, in seinem warmen Bett, neben seiner Frau und seinen Kindern. 

Er hatte keine Kinder. 

Und er hatte keine Frau.

Er hatte aber das hier:

Das Läuten der Lieferantentklingel, gefolgt von frenetischem Geklopfe.

Als Tingo die kleine Hintertür öffnete, fand er einen keuchenden Kurier mit einem ominösen roten Paket in den Händen, das er Tingo hinhielt. Er schüttelte es und sagte: „Nimm! Es ist instabil! Ich bin spät dran!“

„Solltest du’s dann lieber nicht schütteln?“, sagte Tingo und überlegte, ob er das Paket nehmen sollte oder nicht; oder Raymond informieren, seinen Vorgesetzten.

„Das Problem ist temporale Vibration, nicht seismische. Nimm!“

Tingo nahm. 

„Sind die Frauen hier?“, fragte der Kurier. 

„Ich bin allein. Alle sind draußen.“

„Auch die Frauen?“

„Auch die Frauen.“

Der Kurier nickte. Er presste die Lippen aufeinander und drehte sich um, mit einem letzten Blick auf Tingo. Etwas Rotes, ein Transporter, war hinter der Mauer vor der Fabrik geparkt.

Tingo stellte die rote Kiste auf den roten Arbeitstisch, was ein unnötiger Zufall schien, und rief seinen Vorgesetzten an.

„Tingo.“

„Ray, wir haben ein Paket. Instabil wie’s aussieht. Weiß der Teufel, was drin ist.“

„Bin unterwegs. Kannst du es bestimmen?“

„Nicht ohne es zu öffnen.

„Okay. Bin gleich da.“

Raymond klang nicht besorgt. Aber als er ankam, befand er sich in seinem sicheren, luftgefüllten Anzug mit seinen frisch getauschten Filtern. Tingo hatte auch einen Anzug, sicher. In seinem Spind. Er hatte die Filter seit Wochen nicht getauscht. Er bewahrte sie im Lager auf, weil, nun. Er wollte einfach fertig werden und nach Hause gehen, zu niemandem.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Ray ruhig und bemerkte Tingos Blick. „Es gibt keine Anzeichen für chemische, biologische oder mechanische Aktivität. Das Ding ist in Stasis.“

„Woher weißt du das?“

„Sollen wir’s aufmachen?“ Ray betrachtete das Paket.

„Ich weiß nicht. Sollen wir?“

„Von wem ist es?“

„Ich weiß nicht, Ray.“

„Hast du keine Papiere unterschrieben? Keine Formulare?“

„Keine Formulare, Ray, kein Papier und keine Unterschrift.

„Muss die Lieferung von Strandos sein.“

Tingo Blick wanderte über das Paket. „Es sieht gewalttätig aus.“

„Es ist nur ein Paket, Ting.“

„Ich weiß nicht, Ray. Es ist ein rotes Paket. Bedeutet das nicht normalerweise was?“

„Okay. Hol deinen Anzug. Wir öffnen es.“

Tingo ging runter ins Lager. Er passierte ein Fenster, von dem aus er eine kleine Gruppe Arbeiter draußen sehen konnte. Sie sahen aus wie immer. Die Sonne schien aufs Glas und Tingo musste seine Augen zusammenkneifen. Ihre Schatten waren lebhaft, dabei kurz und präzise. Wie ein Tier, begünstigt und geformt durch Evolution. Es konnte nicht später als10 Uhr gewesen sein.

Tingo fand seinen Spind. Kein Anzug. Aber irgendwer hatte sein Werkzeug gereinigt. Alles desinfiziert und ordnungsgemäß an die entsprechenden Haken gehängt. Aber kein Anzug.

Tingo suchte die Umgebung ab. 

Kein. 

Anzug. 

Er kehrte zurück zur oberen Etage, zu seinem Arbeitsplatz, zum roten Tisch und Raymond. Aber es gab keinen Raymond mehr. Raymond war fort. 

„Ray?“ rief Tingo. „Raymond?“

Er suchte in der Nähe seiner Station, bei Raymonds Büro, bei den Maschinen, die Raymond inspizierte, nahe der geleerten Abfalltonnen.

„Raymond…?“

Da lag er. 

Flach auf dem Boden, hatte seinen Anzug an und einen friedlichen Gesichtsausdruck. Zumindest sah es so aus. Er bewegte sich nicht. Er sah okay aus. Aber er war nicht okay.

Tingo überlegte, in Panik zu geraten.

„Ray? Komm schon…“

Er versuchte, Ray zu bewegen, schüttelte ihn, wie der Kurier das verdammte rote Päckchen schüttelte. Eines seiner Augenlider glitt auf. Tingo schrie Ray an. Aber da war kein Ray mehr.

Konnte er nach draußen gehen? Sollte er die anderen warnen, Hilfe holen? Würde etwas nach draußen dringen? War schon etwas nach draußen gedrungen? Was war hier drinnen?

Er ging zurück zum Fenster. Da war Gibston. „Hey! Gibston! He, Mann!“ Tingo brüllte gegens Glas, gab Zeichen und klopfte. Gibston hörte nichts. Er sah nichts. Die Sonne musste heftig, ihr Brotessen und Jubeln laut gewesen sein.

Genug, beschloss Tingo. Er ging zur Tür. Er würde sie minimal öffnen und nach draußen schreien. Selbst wenn dabei etwas entkam — es wäre wohl nicht viel. 

Oder? 

Wäre das in Ordnung?

Die Tür rührte sich nicht. Irgendetwas hielt sie geschlossen. Tingo versuchte sich zu erinnern, ob es technische Vorkehrungen gab, Mechanismen, die den Ort im Notfall versiegelten. Was erkannte einen solchen Notfall? Versteckte Sensoren in der Wand? Schnüffelvorrichtungen an den Arbeitsplätzen? 

Die Tür war fest verschlossen. Alle waren draußen, wo der Herbst bald kam, aßen ihre Brot, ließen sich von Lichtteilchen treffen.

Tingo war allein. 

Er setzte sich an seinen Arbeitsplatz, legte das rote Paket auf seinen Schoß und wartete.

Wahrscheinlich die Lieferung von Strandos. 

Er berührte das Paket, fuhr mit den Fingern über die Linien. Zerklüftete, unebene Strukturen, keinesfalls glatt und eben. Alle waren draußen. Auch die Frauen.

Das Telefon an seinem Arbeitsplatz klingelte. Er sah es an, doch es klingelte weiter. 

War es die Firma? 

Die Bank? 

Es war nie die Firma. Oder die Bank. 

Er starrte auf das Telefon und schloss die Augen. Doch das Telefon klingelte weiter. 

Du hast gewonnen, dachte er und nahm ab.

Es war Tingos Frau. „Schatz … hast du wieder durch die Schicht gearbeitet …? Du bist furchtbar spät…“

„Ich weiß. Ich komme bald nach Hause. Warte nicht auf mich.“ Tingo legte auf. Was sollte das? Was soll das? Er hatte keine Frau.

Er starrte ins Leere.

Da war ein Riss in der Wand, von dem er wusste, dass er da war. Doch jetzt schien er über die gesamte Wand zu laufen. Tingo wollte hingehen und ihn untersuchen, seinen Weg verfolgen, den Verlauf nachziehen. Aber er wusste, dass er sich schneller ausbreiten würde, wenn er hinsah. 

Er musste einen Anzug finden; das Paket öffnen. Er wusste nicht, ob er einen finden würde. Aber er wusste eins: Wenn etwas entkommen wäre, war es sowieso zu spät.

Auf dem Weg zu den Spinden passierte er abermals das Fenster. Was geschah? Sie sonnten sich, aßen Brot. Wie viel beschissenes Brot hatten die da draußen?

Tingo stand vor Gibstons Spind. Vielleicht wäre da ein Anzug drin. Er war nicht verschlossen. Er zögerte einen Moment, dann öffnete er ihn und betrachtete das Innere. Alles war geordnet, sauber, desinfiziert, die Werkzeuge waren an Haken aufgehängt und einige sogar noch eingepackt. Sogar die Verpackung selbst war eingewickelt. 

Alles neu. 

Kein Anzug. 

Tingo schloss den Spind.

Diese Werkzeuge, die Verpackungen… Gegenstände eines Orts, an dem er nichts zu suchen hatte. Das hier waren Werkzeuge, die man in Krisenzeiten nutzt. Eine Zeit, die kommt, wenn man etwas rückgängig macht.

Er musste Rays Anzug nehmen. Wenn er das Paket öffnen wollte, musste er Rays Anzug nehmen.

Als Tingo erneut am Fenster entlangkam, schaute er hinaus, bereit, Zeuge der Solidarität zu werden, des Zusammenhalts, der buttrigen Scheiben. Tiefe Freundschaft, reflektiert in Fett und Weizen.

Sie waren tot. Sie lagen da. Flach auf dem Boden. Bewegungslos und sehr tot. Genau wie Ray.

Die Sonne schien in ihre offenen Münder. Kein Brot mehr.

War etwas nach draußen gelangt? Durch den Riss in der Wand? Warum zum Teufel war er am Leben?

Tingo drehte sich langsam um. Er schloss die Augen. 

Die Geräuschlosigkeit war absolut. Sogar die Maschinen hatten aufgehört zu arbeiten, die Zentrifuge, die Brim-Schäumer und der Swod-ex. Alle zurückgezogen in die Stille. Es gab nichts zu hören. Aber Tingo wollte hören. Tingo war extrem allein. Er horchte angestrengt ins Nichts, die Augen geschlossen. Eine Minute. Zwei. Fünf. Dann öffnete er die Augen und stand in seinem Schlafzimmer. Er war zu Hause.

Staubwolken bestrahlt vom Nachmittagslicht. Das ganze Zimmer war in tiefes, festliches Orange getaucht. Und da war Ray. In seinem nutzlosen Anzug, flach auf dem Bett, als wäre es eine Art Fabrikboden.

„Ray…“ Tingo krabbelte aufs Bett und näherte sich vorsichtig. „Ray… kannst du mich hören?“

Tingo sah ihn an. Das war nicht richtig. Er hatte das alles nicht getan. Nicht jetzt, nicht in seiner letzten Schicht und überhaupt. Er drehte sich zur anderen Seite, zur leeren, wo die verwirrten Moleküle schwebten. Sonnenstrahlen wärmten das Bett, auf dem es langsam eng wurde. Es waren bereits zwei Personen darauf, drei, wenn man das Kind mitzählte. Sein kleiner Anzug nahm etwas mehr Platz ein, als zwischen Rays Anzug und Tingo vorhanden war, und zwang Tingo, sich an die Bettkante zu klammern. Aber das machte ihm nichts aus. Vorsichtig beugte er sich vor, spähte in den kleinen Anzug, schaute auf Merna, seine Fünfjährige. Er beugte sich über das Kind und versuchte, Rays Anzug zu inspizieren. Er sah in Ordnung aus. Luftdicht und sicher. Seine Frau lag darin und atmete langsam und tief, so wie Schlafende atmen.

Tingo seufzte. Sie waren beide hier. Das Paket war hier. Rot und ungeöffnet, neben ihnen auf dem Nachttisch.

„Ist es in Ordnung?“, flüsterte jemand, „kann ich nehmen?“

„Ja“, sagte Tingo. „Nimm.“

„Wie ich sehe, sind die Frauen da“, sagte der Kurier.

„Sieht so aus“, sagte Tingo.

Der Kurier trat vor, lächelte die schlafende Frau und das Kind an und nahm das Paket, vorsichtig und langsam.

„Ich glaube, es ist jetzt stabil“, sagte Tingo. Er betrachtete es ein letztes Mal. Es war immer noch rot. Vielleicht mehr noch als zuvor. Er bemerkte einen kleinen Riss an einer Seite.

Der Kurier nickte. Er ging leise aus dem Schlafzimmer; und Tingo schlief endlich ein.



(Weitere Kurzgeschichten findet ihr in meinem kommenden Kurzgeschichtenband. Wenn ihr informiert werden wollt, wann der erscheint, schreibt mir eine kurze Mail mit dem Betreff „Kurzgeschichten“, dann setze ich euch auf die Mailingliste. Kein Spam. Versprochen. Und danke fürs Lesen.)

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