„In Schworni“

Mein Umzug nach Schworni kam für viele unvermittelt. Für mich weniger, als für meine Familie. 

Es war der Tag auf dem Balkon, recht heiß, vermutlich Juli oder einer dieser pervers geheizten Juni-Tagen, die wir in den letzten Jahren häufig hatten, als ich entschied: Schluss. Schluss damit. Aus und Vorbei mit dem Kauern auf dem dummen Kniestuhl, der meinen Rücken stützen und die Hüfte stärken sollte, finito mit dem pacmanhaften Mampf von Medis Schrägstrich Vitaminen, basta mit den Pilatesposen und dem Mittagsstretching.

Es war Zeit. Sich klarzumachen nämlich, dass es so nicht weiter ging. Da war dieser kleine ferne Schauer, der in meiner Lendengegend saß, was mein Geistiger-Gesundheitsberater (wohl ein Psychologe?) als klassisch freudsch einstufte, wenn man mich fragt aber einfach nur Hormonstau war. Lymphbedingt oder schlicht der Alterung geschuldet. Wie eben alles. Wovon so ein Berater natürlich nicht viel hören will.

Da war das wirre Gefühl nicht zu sein, wo ich hingehöre. Der Gedanke, das Leben in eine neue Bahn zu lenken. All dies empfand ich so stark wie den blendenden Sonnenschein damals am Pool in einem historischen Badeort in Apulien, als ich bis obenhin zu mit dem blondem Bier der Einheimischen und via Poloch geschmuggeltem Haschisch aus dem Görlitzer Park war. Das Haschich habe ich mir mittlerweile abgewöhnt, Alkohol und Zigaretten noch nicht ganz.

Meine Freundin fragte damals: „Warum?“ und ich sagte, als ob mir nicht klar sei, worauf die Frage abziele: „Was meinst du?“  
Sie sagte „Warum jetzt?“ Ihre Stimme klang wie das Echo einer Frage, die in den leeren Räumen unserer letzten gemeinsamen Jahre verhallt war.

Ich wollte ihr sagen, dass Schworni nicht nur ein Ort war, sondern eine Lösung, ein notwendiger Sprung von der stagnierenden Lethargie in ein unbekanntes kulturelles Wasser. In die Wasser der Erkenntnis. „Weil ich nicht warten kann, bis es zu spät ist“, sagte ich stattdessen, wobei meine Stimme weniger Gewissheit ausstrahlte, als ich beabsichtigt hatte. Sie nickte, als ob sie das verstand, als ob sie schon lange den subtilen Verfall unserer Gespräche und die zunehmende Entfernung in unseren Blicken bemerkt hätte.

Schworni war eine kleine Bergstadt, die aus der Zeit gefallen wirkte. Die Gebäude, eine merkwürdige Mischung sowjetischer Strenge und postmodernem Zufalls, standen wie Monumente eines unbekannten Künstlers, der sich nie entschieden hatte, ob er nun Tragödie oder Farce darstellte.  Wie eine kleine Republik. Die Einheimischen bewegten sich durch die Kulisse mit zielgerichteter Zerstreutheit, was mich anfangs faszinierte und verwirrte. 

Ich für meinen Teil wusste immer, wo ich hin und vor allem, was ich dort wollte. Ich wusste sogar, wie ich es bekäme. Doch in meinen frühen Schwornitagen betrachtete ich die zufälligen Entdeckungen, Beobachtungen und Begegnungen, die sich durch gezielte Ziellosigkeit ergaben, als fast kartographisches Mittel um Schworni abzubilden. Akzidens und Okkasion waren das Sonar, mit dem ich in den Raum um mich pingte und vermaß, wie ein Delphin oder eine Fledermaus. Ich versuchte, die Sprache zu entschlüsseln, ihre Melodie, die harten Konsonanten und die flüchtigen Vokale, die sich mir entzogen, ich wünschte die Menschen zu begreifen, die seltsame Geschwungenheit der Wege und die Präsenz der stillgelegten Sternwarte dort oben auf dem Ketzlebech. Wenn ich die ferne Bergspitze mit ihrem Observatorium von Schwornis Straßen aus betrachte (alles überragend, vehement, verlassen), musste ich an Cranes Ölgemalde „Das Rad des Schicksals“ denken. Warum weiß ich nicht. Darauf präsentierte der griechische Gott Chronos als bedrohlich-bärtiger Glatzkopf einem engelshaften Jüngling eine Lebenszeitabrechnung. Ich konnte nie entscheiden, ob es die eines bedauernswerten Erdenbürgers war, oder die des Jünglings selbst. 

Ein schauderhaftes Werk.

Eines Abends, in einer kleinen Bar an einer Ecke, die aussah, als wäre sie mal Flüsterkneipe und vielleicht auch ritueller Selbstmordtreff gewesen, traf ich Ana. Ana, mit Augen, die schienen, als hätten sie beides gesehen – die große Liebe und die stete Erosion menschlicher Verbundenheit. Sie hörte mir zu, während ich von meinem Leben erzählte, von den Brüchen und den Momenten orientierter Klarheit.

„Warum Schworni?“, fragte sie nach einer Weile, ihre Stimme rau von den vielen Zigaretten. Ich glaube, sie war Mitte dreissig.
„Ich suche etwas, das ich nicht beschreiben kann“, sagte ich. 
Ana lachte leise, ein Geräusch, das mehr Trost als Spott abbildete. „Wir suchen alle etwas,das sich uns entzieht. In der Hoffnung, dass wir es eines Tages an einem neuen Ort oder in den Augen eines Fremden finden.“ 
Ich war nicht sicher, ob ich zustimmte. Ana sah zum Ketzlebech, zum Kleinen Kügler und zur Kesselspitz. Drei stolze Gipfel mit irgendwie vulgären Titeln. Dann sah sie zu mir. Warum Schworni, lag in ihrem Blick.

So verstrichen die Tage, und Schworni begann, sich weniger wie ein Rätsel und mehr wie eine Antwort anzufühlen, eine, die ich nicht komplett begriff, die aber im leisen Flüstern des Windes, der durch die alten Gassen wehte, Gestalt annahm, in den tiefen Schatten der Gebäude, in der verwaisten Sternwarte oben auf dem Ketzlebechund auch in Anas Lächeln, das versprach, dass das Suchen selbst die Reise wert war. Als mir das auffiel, dachte ich: Hallo Klischee. Das hatte ich noch nie gemocht:Der Weg ist das Ziel. Ich fand: Das Ziel ist das Ziel. Diese stetige Rechtfertigung des ziellosen Streunens. Der wahre Schatz sind die Freunde, die wir unterwegs gemacht haben. Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen, es sind wir selbst, etcetera pp. Faule Ausreden. Für ein poetisches Umhertappen derer, die sich nicht eingestanden, dass ihre Reisen ziellos waren. Meine waren es nicht. Egal, wie es von aussen wirkte. Meine hatten ein Anfang und ein Ende und mein Berg würde erklommen werden, absolut. Wenn ich mich dabei denn miterklomm — meinetwegen. Ich wollte den Gipfel; ich musste erklimmen, unbedingt.

Ana schien das zu verstehen, als wir eines Nachts am Ufer des zugefrorenen Flusses standen, der Schworni in zwei Hälften schnitt. Ihr Atem machte Wölkchen in der kalten Luft, und ihr Blick klebte an der Dunkelheit des Himmels. „Vielleicht schaltest du trotzdem einen Gang zurück…“, hauchte ihre raue Stimme neben mir. Ich wusste, dass sie eine Schaltbewegung machte, ein Rucken wie bei einem Oldtimer, hakend und beschwerlich, nur sehen konnte ich es nicht. Die Straßenlaternen standen zu weit auseinander, und wir inmitten einer dunklen Zone. Ein Schritt weiter, und wir wären durch die Eisschicht in den Fluss gebrochen. 

„Du musst dir doch nichts mehr beweisen“, sagte sie. „Längst nicht mehr.“

II

Ich stellte fest, dass sich über die nächsten Schworniwochen meine Wahrnehmung wandelte. Es war, als hätte dieser Ort eine gewisse Strahlkraft, die Überzeugungen umordnete.
Woran lag es? Ich weiß es nicht. Doch hier, in den endlosen Gesprächen mit Ana und den anderen Gestalten, die ich in den verwinkelten Gässchen und rauchgefüllten Kneipen traf, fand ich allmählich zu einer neuen Art von Ziel: der Akzeptanz der Ziellosigkeit. Nicht als Ausrede oder Flucht, sondern als bewusste Wahl. Als Mittel. Ein vages und vitales Feld, und ich als Fänger mittendrin.

Die Menschen, die ich traf, hatten Gründe für ihr Hiersein. Meist waren sie unbestimmt und flüchtig, oder vielleicht, wie ich später überlegte, unausgesprochen oder vor mir abgeschirmt. Sie hatten sich hierher bewegt, getrieben von Neugier und Notwendigkeit. Jeder brachte seine eigene Geschichte mit, ein Mosaik aus Bruchstücken, das sich in den verworrenen Gassen dieses Ortes langsam zu einem neuen Bild zusammensetzte. Ich hörte die Geschichten der alten Frauen, die Schworni noch von früher kannten, aus den roten Tagen, wie es hieß, ich hörte dummes Zeug, das dumme junge Menschen sagten, die sich dumm und jugendhaft verhielten, und doch nie so dümmlich, wie sie es in großen Metropolen taten. Ich mochte sie gern. In ihren dümmlichen Geschichten fand ich eine Art von Frieden, eine Ruhe, die ich seit Langem nicht mehr spürte. In diesem Sinne musste man die Jugend preisen, wenn sie auch nicht ewig währte. Ein alter Mann mit ledrigem Gesicht beäugte mich manchmal aus der Dunkelheit. Auch ihn schien ich zu mögen.

Die Schwornesen waren allesamt adept in Rauchen, Trinken und Zusammenhalten, in nominalem Fummeln und so weiter. Dennoch war es absolut nicht ungewöhnlich, dass Jüngere sich der Älteren annahmen und bei Einkauf, Putz und Seelsorg halfen. Die tattrigen Alten revanchierten sich mit Schnapps in Krügen und mit ferner Weisheit. Es war ein heilsamer und notwendiger Kreislauf und ich habe ihn selten so intakt und mühelos erlebt wie in Schworni. Ob der ledergesichtige Alte ähnliches von mir erwartete, konnte ich nicht sagen. Ich glaube, ich war noch nicht bereit, mich ihm auf diese Weise anzubieten, mich liebevoll und hilfsbereit zu zeigen.

Die Tage verstrichen in einem Dunst aus Tabakrauch und kaltem Wind, der von den drei schneebedeckten Berggipfeln zu uns herunterstieg. Ich gewöhnte mich an den rhythmischen Klang der Sprache und der Kirchenglocken, die jede Stunde gongten, ich gewöhnte mich an Ana und den Geschmack von Šlivovitz, den lokalen und ziemlich scharfen Pflaumenschnaps, der in kleinen, dampfenden Kneipen serviert wurde. Woran ich mich nie gewöhnte, waren die Eimer mit übel riechendem Brackwasser, die immer wieder auf den Wegen standen. Ich hatte Vermutungen, woher sie stammten, wollte das vor Ana aber nicht äußern, aus Sorge um die Stimmung. Wir flanierten durch Gassen, stolperten durch die klare Bergluft und küssten uns doch nie. Ich begann, die Häuslichen als zaghaft und kleinmütig zu betrachten. Ich schmähte die, die nicht tranken und stolperten, und manchmal sogar die, die nicht rauchten und allgemein alle, die keine gesundheitliche Buße zahlten. Ich glaube, mir gefiel, wie bedingungslos Schworni die Ziellosigkeit als Ziel vertrat, etwas, das auch ich mittlerweile tat. Ich war absolut der Meinung, ich sei damit von meiner Zielgerichtetheit nicht abgerückt. 

Eines Nachmittags, als der Himmel besonders grau war und das Licht diffus, führte Ana mich zu einem Mann, Raffi, den sie mir als ihren Ex vorstellte. Er war wohl Mitte zwanzig und, wie Ana sagte, zuckersüchtig. Er lebte hier, weil er eben zuckersüchtig war. Ich fragte, ob er seine Zuckersucht hier abzulegen im Stande war, worauf er sagte: „Ich denke nicht.“ 

Die ganze Zeit, die er und ich verbrachten, anfangs eine knappe Stunde, in den folgenden Wochen ganze Tage, sah ich ihn nie etwas zuckerreiches essen. Das Süßeste, das ich mitbekam, war eine grüngelbe Mango, und auch die nur halb und in kleinen, langsam abgeschälten Scheibchen. 

Als wir beide eines ungewöhnlichen frühen Morgens durch einen kalten Bergfluss wateten um hart und resilient zu werden, sagte er: „Wir kennen uns jetzt eine ganze Weile. Sag: Warum Schworni?“
Ich erklärte, ich wusste, dass ich hierher wollte. In ein unbekanntes kulturelles Wasser. Der Zufall mit dem Bergfluss ärgerte mich, aber Raffi schien das nicht zu stören. Er hakte sich mit seinem unter meinen Arm. „Zu viel Ziel und dir geht die Leichtigkeit verloren“, sagte er.
„Zu wenig, und dir geht das Ziel verloren“, entgegnete ich.
Raffi nickte respektvoll. „Magst du Ana?“ 
„Alle mögen Ana“, sagte ich, meinem kleinen Vorwurf gegenüber der Gemeinschaft durchaus gewahr. 
Raffi nickte. „Alle lieben sie und sie liebt alle.Sie hilfsbereit, liebevoll und hübsch,mit jeder Faser eine Kreatur aus Schworni.Du wusstest, dass sie hier geboren ist?“
„Ja“, sagte ich, „wusste ich.“
„Und findest du es komisch, dass sie noch hier ist?“
„Warum sollte ich das komisch finden?“
Raffi antwortete nicht und suchte stattdessen mit der Linken in seiner Manteltasche, während sich die Rechte an meinen Arm verspannte. Ich erwartete, dass er etwas Süßes, einen Fruchtriegel oder eine zuckerfreie Ersatzstoffsüßigkeit aus seiner Tasche ziehen würde, hier draussen, im Wasser, in sicherer Vertrautheit mit seinem mittlerweile guten Freund, der sich zu komplizenhaftem Schweigen absolut im Stande sah. 
Zu meiner Enttäuschung war es nur ein Stück Papier, dass er mir entgegenhielt. Ich sah auf einen Flyer von glossy Qualität, nur etwas älter und schon oft geknickt. 
„Ist das Ana?“, fragte ich. 
„Hübsch, oder?“
Ich widerstand dem Drang, Raffi nach Details zu fragen. Warum sie so burlesque auf dem Flyer kokettierte, was das für eine Veranstaltung war. 
Wie sie im Bett war. 
Er drückte mir den Flyer in die Hand, den ich im selben Moment zu zerreissen beschloß (und doch nie tat). Ich fühlte mich beleidigt. Hintergangen. Von wem? Von Ana? Raffi? Ich konnte es nicht sagen.
„Wusstest du,“ sagte Raffi, zur mittleren der drei Bergspitzen nickend, „dass der Sendemast oben auf der Kesselspitz eintausend Kilowatt stärker sendet, als die in anderen Gebirgen? Wegen der besonderen Porösität des Gesteins drumrum.“
„Zuckersucht ist eine schlimme Krankheit“, erklärte ich im Gegenzug. „Womöglich löst sie Diabetes aus. Mellitus.“
Raffi sah mich milde an und sagte nur: „Es gibt viel schlimmere. Die im Kopf zum Beispiel. Die illusorischen. Die sind viel schlimmer.“

Zwei Tage später war mein kleiner ferner Lendengegendschauer wieder da. Erst ganz sanft und nur in Beckengegend, dann strich er etwas weiter aufwärts und berührte mich fast überdeutlich. Seither ist er unverändert. Präsent und überdeutlich. Ich erzählte meinen Freunden davon, in umgekehrter Bedeutungsreihenfolge: Erst den Männern in den Bars, dann Raffi, schließlich Ana. Wir tranken Šlivovitz und sahen aus dem Fenster in den ersten Schneefall. Ana fragte mich, ob ich das untersuchen lassen wollte. „Nein“, sagte ich. „Warum denn.“ Ich verschwieg den Geistigen-Gesundheitsberater, der wohl einfach Psychologe war, Psychiater vielleicht, und meine früheren Gedanken. Der Schauer war zurück. Zum ersten Mal seit Monaten. Mein neues Leben in Schworni war befleckt von meinem alten. Nicht stark, nicht kontaminiert oder verunreinigt. Aber leicht befleckt. 

Was hatte das zu bedeuten? 

Ich saß mit Ana in einer Kneipe, der ältesten des Ortes, aber keinesfalls der besten. Ihr Gesicht befand sich mittig vor dem Rahmen eines Fensters. Vor ihr dampfte Tee mit Schuss und hinter ihr fiel Schnee, auf davor, ab dahinter, und in der Mitte sie. 

Nun weiß ich nicht mehr, ob es allein die Erfahrung meiner zurückgekehrten Körperlichkeit an diesen körperlosen Ort war, oder ob der Tee mit Schuss einfach Tee mit Schuss-Sachen mit meinem Kopf anstellte. Vielleicht war es auch ihre seltsame Stabilität inmitten der Polaritäten – auf, ab, innen, außen, vor, zurück, aber: Ana kam mir plötzlich bedrohlich vor. Irgendetwas in ihrer Präsenz beunruhigte mich in dem Moment. Als ich sie ansah, hatte ich den Eindruck, sie stecke voller alter Erinnerungen. Ein schöner, junger Speicher voller übler, alter Impressionen.

Um die Empfindung abzuleiten (und weil das eines meiner Ziele war), entschied ich mich zum Angriff. Ich nahm ihre Hand in meine, sagte: „Wir haben viel geredet, du und ich. Und du weißt, was es heißt, wenn ich deine Hand nehme, vor diesem Fenster und dem Tee mit Schuss.“ Dass sie genau genommen hinter dem Tee war, störte mich ein wenig, aber ich glaube, sie bemerkte diese Logiklücke nicht. Überhaupt hatte sie überraschend wenig Mühe schnell zu äußern: „Entschuldige.“ Sie lächelte ein ehrliches Lächeln, und sie nahm auch nicht die Hand aus meiner, setzte aber nach: „Ich… mag jüngere.“
„So wie Raffi?“, fragte ich, maßlos geknickt.
„So wie Raffi“, zwinkerte sie und drückte meine Hand.

Die nächsten Tage verbrachte ich hauptsächlich zuhause. Meine Zweizimmerwohnung war gut durchgeheizt, mein Appetit gering. Ich verbrannte alte Unterlagen, die ich aus unbekannten Gründen mit hierher genommen hatte: Mein Resümee, mein Chronulus-WhitePaper, den Fünf-Jahres-Plan. Alles landete im Ofen und heizte die zwei Kämmerchen. Ich hatte Holz für Jahre hinterm Haus im Schuppen und Šlivovitz in Glaskaraffen. Mein Ziel war mein Ziel.

Als es an der Haustür klopfte, erwartete ich Ana oder Raffi. Raffi hatte ich seit Tagen nicht gesehen. Ständig wartete ich auf einen Anruf, dass er mit Zuckerschock in ein kilometerweit entferntes Krankenhaus eingeliefert worden sei, in den Entzug, die Psychiatrie. Als ich öffnete, was es der Zeitungsjunge: Feuer im Observatorium auf dem Ketzlebech. Ein Flächenbrand im Innern und über Wochen unbemerkt, bis ein Wanderer mit Hackenblase sich an der metallenen und aufgeheizten Eingangstür abstützte und sich zur Blase unten noch eine an der Hand zuzog.

Ich kann nicht mehr rekonstruieren, warum mich das so mitgenommen hatte. Nicht der dämliche Wanderer mit seinen offensichtlich neuen Schuhen, sondern das Observatorium. Ein Ort, der Wissen über Unbekanntes vorbringt. Einfach ausgebrannt. Zerstört.

Über die Bilder, die das in mir hervorrief, vergaß ich mein geheiztes Schicksal und verlor mich an die nächste Kneipe. 
An einem Tisch, den ich mit Ana bei einem unserer erste Besuche schon besaß, starrte ich gedankenverloren durch die Gegend. Der alte Mann mit dem ledrigen Gesicht hockte an der Theke, das Kinn zurückgesetzt und schwach. Ich sah ihn immer wieder, auf den Straßen, in den Kneipen. Er trank Tee, nur ohne Schuss, das wusste ich. Als unsere Blicke sich zum wiederholten Male trafen, blickte er zur Wand, als suche er dort etwas. Ich prüfte die Wand, hielt nach Wanted-Postern mit meinem Antlitz Ausschau, nach Flugblättern, Aushängen, nach von Kinderhand gemalten Zeichnungen meines Konterfei. Der Alte starrte an eine nackte, unbeseelte Wand. 
Ich bestellte irgendeinen Tee mit irgendeinem Schuss und spielte mit dem Gedanken, zu rauchen. Ich hätte vom Barkeeper schnorren können, den Gästen, dem alten Lederheini. Der sah schon wieder rüber. Ich nahm meinen Notizblock aus der Manteltasche und überlegte, was für wichtige Notizen ich anfertigen könnte. Ich konnte weder Zeichnen noch skizzieren. Sonst hätte ich eine Zeichnung von mir selbst an die Wand gehängt, damit der Alte mich dort beglotzen konnte. Auf das Papier schrieb ich Warum Schworni. Ich starrte eine Weile auf den Block und fragte mich, warum ich das geschrieben hatte. Dann steckte ich ihn weg und ging zum Alten rüber. 
„Ich hab keine Zigaretten“, sagte der, als ich neben ihm stand. 
„Ich will keine Zigaretten“, sagte ich. „Darf ich mich setzen?“
Er brummte unverständlich, was ich zur Genehmigung erklärte. 
„Wie lange leben Sie schon hier?“
„Lang genug.“ Seine Stimme klang abweisend, sein müder Bart hing fast bis in den Tee.
„Wie lange denn? Was haben sie gemacht? Beruflich, meine ich?“, fragte ich unbeeindruckt von seinem abweisenden Gesicht und dem unfreundlichen Ton, der daraus hervor sprang.
Er schnaubte missbilligend in seine Tasse, wovon ich wieder völlig unberührt war. Seine Ablehnung stachelte mich an. Ich wollte geradezu dagegen laufen, gegen diese feindliche Mauer aus ledernen Backsteinen. Ich glaube, ich wollte wieder erklimmen. „Mein guter Freund Raffi sagt, der Sendemast da oben funkt tausend Kilowatt stärker als alle anderen, wegen der Zusammensetzung der Berge drumherum.“ Ich nickte zur Kesselspitz, die man vom Kneipenfenster aus erkennen konnte. Ich erwartete das charakteristische rote Blinken des Masts zur Unterstützung meines Punktes. Als es nicht kam, war ich enttäuscht. „Und meineFreundin Ana sagt, wir wollen in Schworni was in fremden Augen finden“, dozierte ich in einer Art Rausch, wissend um den triumphalen Klang in meiner Stimme. Der Alte würde verstehen, wie tief ich in diese Gemeinschaft integriert war, schöne Wesen wie Ana samt Ex-Freund kannte, sie als vertrauenswürdige und liebe Freunde wähnte. Ich weiß nicht, was ich von ihm wollte. Aber ich war absolut gespannt auf seine Antwort.
„Dein Freund Raffi ist ein Idiot“, erklärte er. „Und du genauso.“
Ich sah wortlos zurück. Er fügte hinzu: „Alles trifft dich jetzt, Jungchen. All die Jahre, Und alles trifft dich jetzt.“
Ich betrachtete ihn noch eine Weile. Dann ging ich.

Draußen hatte der Schneefall aufgehört. Eine Stille lag in der Luft, durch die ich mir einbildete, die modulierten Frequenzen des Hochleistungssenders auf der Kesselspitz zu vernehmen. Ich starrte so lange in den weißgrauen Pamp über den emporragenden Massiven, dass ich überrascht war, als ich beim Weitergehen gegen einen Kübel trat. Das blecherne Ding fiel um und besudelte mich mit einem übelriechenden bräunlichen Schlamm. Ich tat noch ein paar Schritte, bis mir derart schlecht wurde, dass ich beschloss, in die Kneipe zurückzugehen und mir die Bracke vom Hosensaum zu waschen.

Der Alte saß noch immer an der Theke. Sein Tee, die Haltung, das Brüten, alles wie vor meinem Abgang. Ich schritt wortlos an ihm vorbei und ging zu den Toiletten. Im Vorraum stellte ich mich vor den Spiegel. Ich sah aus wie immer, fand ich. Vielleicht etwas grün um die Mundwinkel, und etwas gräulich um die Augen. Der Raum war stramm geheizt, was mir hinsichtlich Reinigung und Trocknung dienlich käme. Ich drehte den Wasserhahn auf, hievte mein besudeltes Bein auf den Waschbeckenrand und versuchte den gröbsten Dreck vom Stoff zu tilgen. Der Geruch des abfließenden Schmutzwassers verstärkte meine Übelkeit.Schließlich nahm ich mein Bein herunter, formte mit meinen Händen einen Kelch und schippt mir Wasser ins Gesicht. Das kalte Bergwasser, das aus der Leitung kam, ließ mich aufheulen, als es mein Gesicht traf. Als ich die Hände fortnahm und wieder in den Spiegel sah, entdeckte ich den Alten. Hatte sich reingeschlichen. Oder ich ihn nicht gehört. Er sah mich über den Spiegel an. 
„Ich musste mich nur erfrischen“, versuchte ich mein gar nicht irreguläres Verhalten zu erklären. Das Glas beunruhigte den Raum erheblich.
Der Alte stellte sich neben mich. Ich fragte mich, ob er was erwidern oder das Waschbecken benutzen würde. Was er hier machte. Sein Kopf hing im Spiegel mit phänomenologischer Wirkung. Angeregt vom kalten Wasser sagte ich: „Verraten Sie mir jetzt, was Sie gemacht haben?“
Der Alte schien die Seife zu suchen. Er schüttelte den Kopf als sie über den Spiegel in meiner Hand entdeckte. 
„Sie können mir vertrauen“, sagte ich, „ich komme aus einer anständigen und ehrlichen Familie. Was war Ihr Beruf? Waren Sie im Stadtrat tätig? Ich könnte es mir vorstellen.“ 
„Hör auf zu fragen.“
„Wir haben geredet. Ich dachte, ich könnte das doch fragen.“ 
„Was denkst du denn, was ich gemacht habe“, brummte er und schielte nach der Seife.
„Ich möchte nicht weiter raten“, sagte ich. „Können Sie es mir nicht einfach sagen?“
Er starrte in den Spiegel. „Was glaubst du. Ich war oben. Observatorium.“ 
„Oh“, machte ich, überrascht, mitgenommen, „da, wo es gebrannt hat!“ Die Leuchtstoffröhre an der Decke summte minderwertig, sein Gesicht  im Glas war leicht beschlagen. „Wissen Sie, wie das passiert ist? War die Verdrahtung marode, ein Okkular zu weit geöffnet? Papiere, die durch zerborstene Fenster wehender Wind unter den Brennpunkt fegt? Ich habe gehört, dass die Sonne in den Bergen vielfach intensiver strahlt als unten.“ Ich wusste, dass meine Fragen physikalischer Unsinn waren. 
„Es hat nicht gebrannt.“
„Doch doch“, beeilte ich mich zu sagen, „vor ein paar Wochen erst, es stand doch in der Zeitung.“
Der Alte blickte nur wortlos in den Spiegel. Er musste nicht wiederholen, was er schon sagte.
„Aber… es… es stand… doch…“ Ich unterbrach mich, sah ihn ratlos an. Über den Spiegel natürlich. Wir hatten irgendwie beschlossen, uns nie mehr ohne anzusehen.  „Vielleicht war es ja nur… ein kleiner Brand,“ überlegte ich matt, „vielleicht haben Feuchtigkeit und Schneefall ihn schnell ausgebremst…“ Meine Gelenke schmerzten, meine Lendengegend benahm sich ledrig. Ich hatte den Eindruck, dass die Lederhaftigkeit des Alten auf mich überging.
Er stütze sich auf den Rand des Waschbeckens und beugte sich näher zum Spiegelran. Dann sagte er leise: „Was willst du da drin. Mh?“
Ich wich zurück, behielt ihn im Auge. Er sah alt und hutzlig aus, abgenutzt, totgeweiht. Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsehen sollte. 
„Ich… ich will da nicht rein“, sagte ich. Der Alte lauerte im Spiegel. Ich hatte Mühe, ihn noch zu erkennen. DasGlas schien immer mehr beschlagenen. Warum war es so beschlagen?
„Was suchst du da?“, machte der Spiegel. 
Ich blickte lange Zeit zu Boden. Dann legte ich die Seife zurück aufs Waschbecken und suchte den Alten im Spiegel.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise. 

III

Die nächsten Tage fror ich mehr als üblich.



(Ende des Auszugs. Die vollständige Geschichte findet ihr in meinem kommenden Kurzgeschichtenband. Wenn ihr informiert werden wollt, wann der erscheint, schreibt mir eine kurze Mail mit dem Betreff „Kurzgeschichten“, dann setze ich euch auf die Mailingliste. Kein Spam. Versprochen. Und danke fürs Lesen.)

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