Das erste Kapitel meines Buches ‚Zufallsrauschen‚ (Veröffentlichung 2025) in Hörbuchfassung, gelesen von Simon Veredon.
Wer seinen Ohren misstraut – hier ist die Augenversion:
Kapitel 1
Schwarzbrunn
„Verrückt, wie die Dinge manchmal laufen.“
Zwei am Fenster im Café. Sie, Lea, aufgekratzt und langhälsig,er bemüht und duldend. Sein Name war unwichtig.
Erik.
Erik nickte versichernd. „Ja. Absolut verrückt.“
Er bestellte sich den kleinsten Decaf den es gab, und er war nussig.
„Die Tür hinter der Tür, Erik, löste sich in Gassen auf. Es war völlig klar, ich wusste: Wenn ich aufhöre mich zu bewegen, sterbe ich. Ich sitze da in alten Zügen, ich suche in Spiegeln nach der Antwort.“ Sie machte ein wichtiges Zungengeräusch. „Mir war klar: Entweder ich verlier’ meinen Verstand, oder ich finde ihn. Herber Kontrast, mh? Oder? Ich will also gerade durch die Tür da — Schnitt, bumm — wach’ ich einfach auf!“
Klang sie empört? Sie klang empört. Sollte er auch empört sein?
„Wirklich unfassbar.“
Auch ohne Blick auf Handy oder Pulsuhr wusste er, dass kaum mehr als zehn Minuten vergangen waren. Lea kratzte sich am Unterarm und träumte mit gut befeuchteten Pupillen aus dem Fenster. Wieder Regen.
Bedröppelt balancierte ein junger Kellner aufrecht stehende Gemüsesticks auf einem Tablett vorbei. Er nickte respektvoll, als sein Blick die Karaffe auf ihrem Tisch streifte, ein von Lea georderter Zweiliterbottich mit einer gurkenbasierten Gesundheitskujambel. Um sie herum verzehrten Cafébesucher Muffins, Marzipancroissants, Geléegebäck; Erdmetallfarbenen Tee, weiße Mochas, dickes Salzgetränk auf Joghurtbasis, schnabulierten hausgemachtes Kohlfritat mit essenziellem Käsedip auf Blattsalat, aßen angemalten Blätterteig und kleine Beeren.
Lea sagte: „Ich glaube, es regnet.“
Sie besaß eine aerodynamisch komplizierte Himmelfahrtsnase und tollkühne Wimpern; lang gebogen waren sie, und aufregend filligran. Erik überlegte, ob er geil war.
Erik. Ein mitteljunger Mann, so charmant wie sein Name.
E.
Rik.
Stumpfer Vokal, dann Frikativ in Zäpfchennähe und schließlich Versiegelung durch rohen Klicklaut, ein scharfer Ausschlag in der Wellenform, der allen Träumen, allen offen gebliebenen Fragen den Riegel vorwarf. Realistisch, hart, grenznah. Ein Name wie sein Besitzer.
Ein klassischer Beobachter sah hier einen hochgewachsenen Kerl Anfang dreissig, einen sportlichen Vierschröter mit Machogesicht, sah das Kurt-Russel-Kinn mit der neckischen Arschritze darin, die entschlossenen Lippen, dazu ein Hautton, der etwas mehr ‚vamos‘ war als ‚los geht’s‘, sah kurze, dunkelblonde Haare und dazu passende, hellbraune Analyseaugen in gut geschützten Knochenschächten. Öffnete das Exemplar den Mund, gewahrte man eine Reihe präzise angeordneter Beisswerkzeuge frühmenschlicher Natur.
Erik Tabrino, der halbe Indonese klar erkennbar. Vielleicht nicht der konkret, aber ein genetischer Zickzack allemal. Gesichter sprachen Bände, und dieses hier sang etwas von Wagemut und Abenteuerlust, allerdings im War-Zustand, im Ist-nicht-mehr. Er war mal einer von den Extremen; einer, der sich hauptsächlich für Sachen begeisterte, die ein zukünftiger Obduktionsbericht als Todesursache in Betracht zog. Er war der Typ, bei dessen Einführung im Film ‚Sympathy for the Devil‘ lief, allerdings nur kurz und mit schnellem Fadeout, weil Cutter und Regisseur schon wussten, dass es nicht ganz passte.
Erik lebte in Schwarzbrunn. Willkommen in Schwarzbrunn: Tortenrund und gebacken aus dem Teig der Postmoderne, gezuckert mit einer Prise Klassenfeindlichkeit und Jahrzehnten enttäuschter Erwartungen. Das Selbst als Teil der Stadt.
“…weshalb ein Heilkräuter-Seminar gar nicht esoterisch ist, sondern—„ Sie küsste ihre Fingerspitzen und warf sie hinauf zum Herrgott, „kulinarisch! Mm—ha!“
Lea war laut, selbst wenn sie leise war und verstieg sich wieder mal in Themen, mit denen Erik nicht warm wurde.
Er sah aus dem Fenster in den Regen. Er wollte weg; weg von dem abseitigen Gelaber und dem kleinen Leben dahinter, blieb aber am Auf und Ab der Nasenspitze in der Scheibe hängen. Lea war ein süßer Fratz. Änderte aber nichts. Auch süße Frätzchen hatten welche, die ihrer überdrüssig wurden.
Lea sagte „Hey“, und Erik wusste schon, was kam.
„Hast du ihn beantragt?“
„Wen?“, sagte Erik und wusste schon, was kam.
„Oh Erik, du weißt doch, dass dir das nur Vorteile bringt. Es gibt keinen Grund, dich deshalb schlecht zu fühlen. Was ist denn das Problem? Macht dich das weniger männlich, fühlst du dich kastriert? Nimmt dir das dein letztes Bisschen altes Leben? Das ist doch nur ein Dokument, ein Papierchen oder ein Stück Plastik, du bekommst Parkplätze, Rabatte, Steuerfreibeträge.“
„Die Parkplätze bekommen nur die mit Schwerstbehinderung.“
„Das ist doch nur ein Dokument, Erik“, sagte sie und ordnete die Krümchen auf dem Tisch. „Das bringt dir nur Vorteile.“
„Wieso schmeckt mein Kaffee nussig.“
„Erik“, sagte Lea leise.
Treffen 18 uhr cage neverleave, stand in der Nachricht die ihn zum Wiedersehen überredete. Klar, Tippfehler, g lag genau neben f, aber gefühlt doch zutreffend. Café Neverleave war ein schwer angesagtes Auffangbecken für alle, die bereit waren, Wasserpreise zu bezahlen, die die von Wein übertrafen. Ausgezeichnet aussehende Männer mit weichen Bärten bissen atemlos von dickbelegten Bagels ab, Laptopverschmolzene, die Spaghetti Bolognese und Cappuccino gleichzeitig zu sich nahmen, trafen Matches aus der Bumsapp und auf das alles traf auf den offiziellen Soundtrack zur dritten und vermutlich (sogar) vierten Kaffeewelle. Interessen, die unmöglich weiter von Eriks entfernt liegen konnten.
Da saß er also, auf einer aufregend restaurierten Baumstumpfbank und roch nach Sandelholz. Dezent, da nicht Parfum, sondern fliehender Rest des Duschgels, und Sandelholz, da schlicht der beste Männerduft: Unprätenziös und dennoch kräftig und natürlich.
Und weil er wusste, dass Lea das mochte.
„Vielleicht solltest du mal meditieren. Wusstest du, dass das nicht nur geistig, sondern auch körperlich gesund ist?“, sagte sie und harkte ihren Unterarm. „Es senkt erwiesenermaßen die Wahrscheinlichkeit zu sterben.“
„Man kann die Wahrscheinlichkeit zu sterben nicht senken.“
„Komm schon, Erik, du weisst doch was ich meine. Stell dir das doch einfach mal vor, wie du da sitzt, in der Natur, die du so magst, meditierend im Mondeslicht, auf einem hölzernen, völlig überwachsenen und ganz und gar vergessen, zugegrasten…“
Ein Rauschen kam über seine Ohren, seine Brust verkrampfte.
Vielleicht sein Gesundheitzustand. Oder dieser Laden. Orte wie diese schrieben einen irgendwann um, wenn man zu lange blieb. Die Umgebung schmeckte mit jedem Schluck Nusskaffee weniger nach Realität und mehr nach dunkler Poesie.
Brr. Kunst.
Happy Hour stand auf einer Tafel an der Theke. Erik fragte sich, wie happy die noch werden konnte. Mehr als einen halben Cocktail konnte er sowieso nicht trinken —konnte, durfte aber nicht— und Hoffnung auf eine durchschwitzte Leanacht vorvorvorjährigen Ausmaßes konnte er sich auch nicht machen —konnte, durfte aber …undsoweiter.
Pappige Housebeats sackten aus abgehängten Speakern schlaff in seine Ohren; Lea zwirbelte Armflaum und hatte perfekte jugendliche Haut. Er hätte nicht herkommen dürfen.
„Wusstest du,“ hauchte sie mit taufrischer Stimme, „dass Frauen die Manneskraft eines Kerls an dessen Augenbrauen ablesen? Also, unbewusst?“ Er spürte ihren Blick in seinem Gesicht.
„Lea, nimm’s mir nicht übel. Aber ich glaube, ich verschwinde jetzt.“
Ihre Himmelfahrtsnase aktivierte sich, als versuchte sie den Fluchtgrund zu erschnuppern, das Wahre und Tiefe, das dahinter stand. Dann presste sie die Lippen aufeinander und nickte nur. Hatte sie wohl mit gerechnet. Nach einem Zehner auf dem Tisch, der auch die Umarmung ersetzte, einem Spießrutenlauf aus wogenden Bärten, neonfarbenen Ray Bans und einem mysteriösen Zirkel angenagter Knusperkissen, winkte Erik draussen noch mal durch die Scheibe. Sie sah nicht verärgert aus, besiegt oder traurig. Nur besorgt.
Auf die Straßen fiel der spätherbstabendliche Regen, gefärbt vom Ersteweltneon des Finanzviertels. Die unwahrscheinlich dicken Fäden fielen zu Boden wie aus dem Wolf gekurbeltes Mett. Sie sackten, plumpsten und schepperten vorbei an Imperialtürmen hiesiger Vermögensfirmen, an alteingesessenen Kredithäusern, zerschellten an der Masse fusionierter Banken und natürlich auch am SchwaFi-Tower (—ein trauriges Amalgam aus Schwarzbrunn und Finance), dem allerhöchsten Ding in der städtischen Finanzskyline.
Erik stieg über nasses Laub und alte Zeitung, eine hingewehte Zusammenarbeit gegen den Wohlstand des Viertels. Er überlegte sich ein Taxi zu rufen, fand das aber verweichlicht. Zehn Minuten. Dann wäre er da. Nicht zu schnell und nicht zu nass, dann würde nichts passieren.
Und das Lily Rose? Hätte ihn ohnehin augenblicklich wieder trocken.
* * *
Der Übergang von
Bank zu Industrie kam schlagartig. Schon aus der Entfernunghörte er den typischen Klang über den Asphalt gezerrter Absperrbandstangen. Als er auf den weitläufigen Hof des alten Industrieparks einbog, standen die Absperrbänder bereits in Formation und der Türsteher zog einen schweren roten Vorhang vor die Tür des Stripclubs. Er baute sich mahnendes Blickes vor einer Division Touristen auf. Zu früh, Jungs.
Scorpion war Türsteher durch und durch, ein Testat an die Sicherheit und das Beste, was Schwarzbrunn in Sachen Schutz von Nackedeis zu bieten hatte. Fast schon zu viel. Er besaß ein waches Gesicht mit kurzen dunklen Locken, einen aufmerksamem Blick und die Körpersprache eines Auftragsmörders. Allein der Name. Scorpion. Wirklich absolut zu viel.
Am Kopf der mit Zeltplane überdachten und rotem Teppich unterlegten Schlange, bemühte sich ein hagerer Mann um die fünfzig mit Scorpion ins Gespräch zu kommen. Er erkundigte sich, ob es nicht furchtbar sei, wenn Dinge türsteherisch eskalierten, man sich in gewalttätigen Verwicklungen wiederfände und so weiter.
„Niemals“, tippte Scorpion dem Mann mit dem Zeigefinger so nachdrücklich auf die Brust, dass dieser einen Schritt zurücktrat, „so’ne Scheisse kommt mir nicht ins Haus.“ Er fixierte den Mann. Erik hörte, wie er semi-lyrisch nachschob: „Stressoren nimmst du raus, du trägst sie zum Müll, dort gehören sie hin, Stressoren auf den Müll.“ Er machte eine Geste, die zerbrechen, zerstören, amüsieren beinhaltete.
„Oh, äh, das sagen Sie so einfach,“ fand der Mann und suchte Halt am Absperrband, „Sie sind ja auch ein kräftiger und stämmiger Gesell…“
Scorpion war ein Monument von einem Kraftklotz, mit Oberarmen wie Krankenhausheizungsrohren; ein Vergleich, der sich Erik noch aufdrängen sollte.
„Wahrscheinlich durch Gewichtheben…?“, riet der Mann, bereit zu kerntiefem Beeindrucktsein.
„Denkmalpflege“, korrigierte der Türsteher und schob einen verirrten Engländer aus dem Bild. „Ich war Restaurator. Italien, Spanien, Frankreich. Fassaden, Fresken, Büsten.“
„Oh“, staunte der Mann, „aber… warum jetzt…“ das hier? ließ er lieber ungesagt.
Scorpion trat vor. Erik sah, wie der Mann zusammenschmolz. „Es gibt einen unausgesprochenen Deal zwischen den Fassaden, Fresken, Büsten und mir: Sie existieren, verwittern, zerbröckeln und verschmutzen, mithilfe von Zeit und Wetter. Dann komm ich und restaurier sie. Das ist die Abmachung. Das ist der Deal. Ein natürlicher und korrekter Kreislauf in Homöostase“, raunte er von oben auf den Mann herab. „Wenn’s jetzt aber schon beim Existieren hakt, dann haben wir ein Problem in Sachen Gleichgewicht.“ Er betrachtete den Mann, als trüge dieser einen Teil der Schuld. Dann tat er einen Schritt zurück und sagte: „Nachdem ich irgendwann nur noch Wetterhähne ausgebessert habe, warder Deal für mich geplatzt.“
„Aber…“, fragte der Mann verdattert und sah sich hilfesuchend um, „was ist denn mit all den Figuren und Verzierungen, den gotischen Bauten, der Porta Nigra, den Kirchen und Museen? Was ist mit dem Gut der Adeligen in ihren Schlossanlagen, mit privaten Kollektionen, was ist mit all den Denkmälern und Skulpturen…?“
„Skulpturen?“ Scorpion riss den Vorhang zur Seite, entblößte die stickerübersäte Stripclubür. Der Mann begann zu zittern. Vielleicht aus Vorfreude oder Angst.
„Du bist ein einfacher Mann. Das sehe ich, deshalb erkläre dir was. Ich hatte hunderte von denen unter meinen Händen, Skulpturen. Das fleischige Leben meiner Hände auf den toten, harten Kanten eines Steins. Verstehst du das? Das ist nichts als starre Form. Kein Puls und keine Schwingung, angehalten in der Zeit und damit tot.“
Der Mann öffnete leicht den Mund und nickte. Er überlegte, wie neu und wichtig das alles für ihn war. Der Türsteher bückte sich auf die des Mannes Augenhöhe ab. Er hauchte: „Ein dekoratives Element. Ein Objekt im Raum, eine tote Oberfläche ohne Wert, ohne“ — er machte eine Bewegung, die alles bedeuten konnte: Großer Busen, herber Wind, ein Blutbad, die Liebe oder eine Tauchergeste.
„Ah ja, aha“, erwiderte der Mann. Dankbar und erschöpft gewahrte er, wie die Stripclubür sich vor ihm öffnete. Dumpfer Bassrest brandete hinaus, der Mann spähte hinein: Das dunkelrote Schimmern schien bereit ihn zu empfangen.
Scorpion nahm den Mann und stieß ihn in den Club. „Steine ohne Puls“, rief er hinterher. Rudernd verschwand der Mann in Dunkelheit und Bass, wie ein Schwimmer, der in unbekanntes Wasser fiel.
Erik trat vor, nickte knapp und streckte die Arme im üblichen fünfundvierzig-Grad-Winkel aus.
„Du warst Restaurator?“, fragte Erik und versuchte nicht interessiert zu wirken.
Scorpion tastete ihn schweigend ab, fand weder Waffe noch Getränk und raunte ihm dann hinterher, er möge anständig bleiben.
Ein länglicher Gang empfing ihn. Sattes Dunkel, sanft erhellt von Kerzenhaltern, wiederkehrende Wegmarken. Dampf geheimniskrämerte aus gut versteckten Nebelmaschinen und räkelte sich die Tapete hoch wie eine qualmende Katze. Beinahe dauerfeucht schienen die Wände, wie belegt mit einem Schutzfilm, einer schimmernden Epidermis, die etwas Seltenes und Kostbares einschloss.Erik strich mit den Fingern die funkelndeTapete lang. Der ganze Gang sah aus, als hätte er gerade ein Bad genommen.
Aus der Tiefe drangen Reste von Musik, detailarm, bassend, dumpf. Je weiter er vordrang, durch Gänge, über Treppen und um Ecken, desto brütender die Wärme und desto lauter die Musik.
Er nahm die letzten Stufen zur / und betrat die karmesinrote große Haupträumlichkeit, den Cocon, wie das Etablissement sie nannte. Ein zur gebärmütterlichen Wärme passender Name für die salonartige Räucherkammer, in der Zigarettenqualm und Nebel von Lichtblitzen und Kunstleder unterbrochenwurden.
Das Lily Rose war ein Hybrid aus Club und Stripclub und jede Unterhaltung ausserhalb der Bar auf pingponghaftes „Was!?“ — „Nee, sorry!?“ reduziert. Die Musik pumpte aus Lautsprechertürmen, die, so erfuhr Erik, auf den Namen ‚Behemoth One’ hörten und offenbar große Nummern in der Welt der Lärmgewinnung waren. Und zweifellos: Die Bassdrum hämmerte wie ein Titan, der über den Planeten schritt. Geradezu ekelhaft präzise wurde der Klang aus den lenkradgroßen Woofern gedrückt und auf alle Meter des Cocons projiziert. Gurrende Trommeln, straffer Bass, der Zwischenraum gefüllt mit ekstasierten Stimmen.
Zwei lebensmüde Biertrinker standen vor einer Behemoth One und diskutierten, den stummen Gesten nach, die relativen Vorzüge verschiedener Brustgrößen. Eine akustische Nuklearmassage strahlte über ihre bierbetankten Wänste, der Überhang der Shirts flatterte unter ihren Bäuchen.
Vom Bass geföhnt = vom Boss geföhnt, erklärte ein Aufkleber am Catwalk, den Erik sich entlang in richtung Bar schob. Konnte sein. Vermutlich. Er hielt Ausschau nach den Tänzerinnen. Eine züngelte die Tanzstange am Ende des Catwalks auf und ab, die andere wob ein Opfer in ein Thekengespräch. Beide steckten in der vollen Takelung: ein knapper roter Bikini und eine lange, mit Glitzerspray veredelte, nach hinten gesteckte Schwanenfeder im Haar. Trashig und scharf. Auf die Flexible an der Stange waren dermaßen viele Spotlights gerichtet, dass Erik fürchtete, ihr Haar ginge jeden Augenblick in Flammen auf. Offensichtlich wollten die Betreiber sicher gehen, dass die Verlockungen ausreichend zu erkennen waren, die Verlockungen selbst aber nichts von der Klientel erkannten.
Die Verlockungen waren groß, statuesk, voluptuös. Körper von enormer sexueller Strahlkraft, und doch umweht von einem Hauch sphinxhafter Mystik, einem Schüsschen Unerklärlichkeit.
Der elektrische Atem zischte, der Cocon versank im Nebel. Erik verfolgte, wie die Bar in einer Dunstbank unterging. Dampf. Für Stripclubs das, was Glutamat für Reisgerichte war.
Über einem Lautsprecherturm ratterte ein Stroboskoplicht hoch, wie der Aufgang einer digital zerhackten Morgensonne. Der Schein traf die Tänzerin an der Stange, machte skulpturartige Schnappschüsse von ihr. Immer wieder ragten surreale Stücke Frau aus dem Dunstmassiv, anderweltlich entartet, in scheibiertem Licht, tranchierter Zeit. Ein subtiles Netzwerk komplexer Informationen lief durch den Raum.
Er schob sich durch den Dunst, nahm die skulpturhaft angeblitzten Leiber wahr und den Bass der sie umspielte. Eine Verbindung ohne Widerspruch und Dissonanz.
* * *
An der Bar
sicherte sich Erik einen Quadratmeter Theke zwischen Haarlos Gebräunt und Pünktlich Besoffen. Sie hatten geprobt. Hypnotisiertes Leiden, dicke Gesichter voller Arroganz. Man hing durch und soff Hauswein. Stand noch zu hinterfragen, warum ein Stripclub einen Hauswein brauchte. Aber gut.
Am anderen Ende der Bar saß ein Vater-Sohn-Gespann, das die Mannwerdung des Filius mit einem Besuch der Welt nackter Tatsachen feiern wollte. Besah man sich den Sprössling, der lieber zusammengesunken auf sein Handy als die vom Vater präsentierten Vorzüge starrte, eine gescheiterte Unternehmung.
Die Bardame kam und trug eine Makel im Gesicht. Eine daumennagelbreite Narbe, ein dunkler Kontrast, der von der linken Schläfe über die Wange bis runter zum Mundwinkel lief und noch aus drei Meter Entfernung im Stripclublicht erkennbar war. Sie hatte was Asiatisches und eine Frisur, die ‚Harter Bob‘ heißen konnte: Glatte, schwarze Haare, die auf Kieferhöhe in einer entschlossenen Kante stoppten und zum Kinn hin scharf abfielen. Ein Gesicht wie Marmite. Brauchte ein bisschen, aber dann…
„Was darf’s sein?“, fragte sie, weniger schnodderig als erwartet. Sie klang rauchig-weich. Narbe, Haar und Stimme harmonierten.
„’N Alkoholfreies, bitte.“
„Mit der Karre hier?“ Sie stützte sich mit dem Ellenbogen in eine Thekenpfütze. Wie ungeschickt.
„Nein, ich…“, überlegte Erik, der auf Rückfragen nicht vorbereitet war. Die Tänzerin im Hintergrund schraubte sich die Stange abwärts, eine pornöse Spirale. „Ja,“ sagte er, „muss noch fahren.“
Die Barfrau verschob sich seitlich, nahm seine Bestellung aus der Kühlung. Dann sah sie Erik einen Augenblick lang and und nickte richtung Vater/Sohn. „Was hältst du von denen?“
Erik sah rüber, zuckte mit den Schultern. „Soll’n die doch machen. Der Junge sieht mündig aus. Was schert’s euch.“
„Schnurzpiepe ist mir das“, erwiderte sie,„aber findest du nicht komisch, dass der Kleine nur am Handy klebt? Ich meine, wir hatten schon explosivere Möpse im Laden, aber in dem Alter…“ Sie machte eine kleine Wolf-heult-Mond-an-Geste.
Zerhacktes Licht fiel in ein Rialtoglas. Erik verfolgte die kaleidoskopische Brechung auf der Theke.
„Ich würde sagen, der Kleine würde von etwas mehr… Vaterschaft der alten Schule profitieren“, sagte sie, und öffnete Eriks Getränk brutal am Thekenrand.
„Du willst ihm das Handy aus der Kralle prügeln?“ sprach Erik gegen die Musik und eine allerhöchstens kleine Empörung an.
„Ach was, prügeln. Der sieht seinen Vater weder draussen Holz hacken noch kann er mit ihm mit und irgendwas jagen, zerlegen oder bereisen. Er sieht Daddy nur noch morgens ins Büro schlappen und abends ist der wieder da. Der Kleine lernt nix von ihm. Ist doch kein Wunder, dass die durchhängen.“
Erik hob die Brauen und scannte die Theke gequält nach seinem ‚Bier‘ ab.
Mit mit einem einzeln grinsenden Mundwinkel beugte sie sich vor und stellte ihm die Flasche hin. Ihr Busen lag an der Thekenkante auf: Serviervorschlag?
„Vier fünfzich.“
„Für Alkoholfrei?“, schnaubte Erik, „— läuft wohl nicht so gut, der Laden…“
Sie zog ein Wenn-du-wüsstest-Gesicht. Er analysierte ihr Narbengewebe. „Neuer Besitzer. Ein Riesenarschloch. Du zahlst mehr, wir bekommen weniger.“ Sie nickte richtung Eingang. „Scorpion ist mittlerweile schon hier eingezogen, weil er sich seine Bude nicht mehr leisten kann. Überall steigt die Miete und der Chef knausert mit der Kohle.“ Die letzten Worte klangen dumpf. Eine Zigarette zappelte beim Sprechen zwischen ihren Lippen.
„Scorpion ist Teil des Inventars?“, sagte Erik, schob fünf Euro hin und mimte: Stimmt so. Sie lächelte ihr einseitiges Lächeln. Er taufte sie Yoko Mono.
„In einer Lagerräumlichkeit nebenan eingezogen. Gehört anscheinend auch zum Lily.“
„Ihr solltet wirklich streiken“, sagte Erik und beglotzte die Schenkel, die sich im Spiegel hinter der Bar um eine wehrlose Tanzstange wickelten.
„Klar, Süßer“, sagte sie. „Und mein Waxing, mh, wer zahlt mir das?“
Ein Übergang in der Musik. Tiefe Schläge durchzogen den Cocon, ein rhythmisiertes Frauenatmen und ein wiederkehrendes Geräusch wie Sprühsahne. Erik wollte ihr Gesicht lesen, ihre Absicht deuten, konnte aber nichts erkennen, da es sich —wie praktisch— hinter einer dichten Wolke Rauch verbarg.
Na schön. Dann so: „Ich würd dir ja ’ne Runde Wachs spendieren, aber… dann bleibt mir nichts mehr für ’nen Tanz von deiner Freundin.“ Er nickte in den Spiegel, zur Tänzerin an der Stange, die in artistischer Postur einen höherwertigen Schein via Strapse empfing. Ein süßes und fragiles Ding, das irgendwann versehentlich mit ihrer Stripperseele in Kontakt geriet.
„Das Problem können wir lösen“, säuselte die Rauchwolke und wurde von Narbe und Barfrau durchbrochen. Sie betrachtete Erik mit vorgebeugtem Oberkörper. Ihr Ellenbogen stand senkrecht auf der Theke, der Zeigefinger abgeklappt in richtung Séparée.
Erik drehte sich, verfolgte die abgeschossene Linie zur angezeigten Räumlichkeit, sah Räumlichkeit, verstand Räumlichkeit und drehte sich zurück. Er kratzte rosa Wachsrest aus einem Astloch in der Theke. „Einfach so?“, sagte er, nicht ohne Misstrauen.
„Einfach so“, lächelte sie. „Auf mich. Verrat’s halt keinem.“
Sein Ellenbogen landete neben ihrem auf der Theke. Zur Bestätigung. Es sah aus, als wollten sie Armdrücken. Er lugte zur Tänzerin an der Stange, die in Brückengestalt kopfüber Routineblicke ins Publikum warf, in ihre Fanschaft, ihr Gefolge. Discojahre sind Doppeljahre, dachte Erik, und sah ihr junges Gesicht im Zeitraffer altern.
Dann beugte er sich zur Barfrau vor. „Und die Theke“, fragte er leise, „können wir einfach so alleine lassen?“
„Die können wir natürlich nicht einfach so alleine lassen“, hauchte sie zurück, drehte den Kopf, pfiff durch zwei Finger und rief: „Angelo! Machst du mal?“
Eriks Ohr klingelte bei der überraschenden Geräuschentwicklung. Er wich zurück. Angelo, offenbar Teil der Security, trabte hinter den Tresen, nickte grob richtung Barfrau und schenkte sich erst mal einen Averna ein. Mit halbem Grinsen trat sie hervor, nahm Eriks Hand und dirigierte ihn zur gegenüberliegende Seite des Cocons. Unter ihrem knappen Rock, kaum mehr als ein Gürtel mit Wachstumsschub, marschierten zwei atemberaubende Beine. Wie ein Leitsystem steuerte sie ihn um dunkle, barocke Säulen, um einbeinige Pianobartische mit schweren Aschenbechern, um nicht mal annähernd echt wirkendes Plastikgewächs und schließlich in das mittlere von drei nebeneinanderliegenden Séparées, gab dem Securitybediensteten davor ein Zeichen, und schloss den Vorhang aus rotem Veloursimitat hinter ihnen.
Schwarze Kerzen auf viereckigen Untersetzern versprühten okkulten Duft. Erik empfand das anregend und bedrohlich zugleich. Vermutlich ob der Nähe zum Synthetikvorhang. Er plumpste in den überraschend bequemen und hygienischen okay wirkenden Sessel und verschränkte, aus irgendeiner niederen Automatik heraus, die Arme hinterm Kopf.
„Kleiner Pascha, mh?“ lächelte sie rechtsgelagert und näherte sich. „Gestatten Pascha: Maya.“
Ihr Parfüm mischte sich mit einer sanften Note Schweiß, eine mayaeigene Privatkomposition, die von Verführung sprach, von Herausforderung, vielleicht Fürsorge und sogar Vertrautheit.
Erik sagte: „Freut mich“, und: „Ich bin Erik.“
Sie lächelte und brachte sich in Position, aufrecht und ihm zugewandt, mit einem kreisendenBecken, das fortan Richtschnur für alles Kreisende sein musste. Erik starrte auf den stoisch oszillierten Unterleib, eine kleine Supernova aus dem Reich des Fleisches und der Freude.
„Also, Pascha…“, machten ihre Lippen dicht an seinem Ohr, „verrat mir deinen Wunsch…“ Sie näherte sich noch, touchierte mit feuchten Lippen den Flaum an seiner Wange. „Nenn mir deine geheimste Begierde…“
Einen Augenblick lang war es still im Séparée.Das titanische Hämmern schien vom Vorhang bedämpft und fast verlangsamt, ein steter Puls, der aus Erik Innern kam. Dann hörte er sich flüstern: „Mehr Leben… Ohne,… dass es mich umbringt.“
Maya stutzte, wich zurück, unsicher, was davon zu halten sei. Dann schüttelte sie was Mama schenkte und legte eine sehr, sehr unartige Pobacke frei. Erik starrte auf den Hintern. Wie musikalisch und richtig dieses Schwingen war. Ein simples wiederholtes Muster aus hypnotischen Kurven und weiblichen Oberflächen, ein Schwingen aus dem göttlichen Spektrum. Leichte Nässe glänzte kristallin auf ihrer Haut, irgendwas roch kupfern. Erik fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn, Maya spähte an ihrer Flanke vorbei, auf der Suche nach Lobpreisung und Bestätigung. „Komm schon“, schnaufte sie und hielt ihm einen rechten Schinken von einer Pobacke hin, „der verhaut sich nicht von selbst.“
Wie sie da stand. An der Taille eingedreht, ihm zu- und abgewandt zugleich. Sie sah tief in Eriks Augen, während ihre sagten: Mach nur, schau nur, greif nur, du kleiner Perversling.
Mit einem T-Shirt-Zipfel klärte Erik seinen schweißgetrübten Blick. Nebel und öliges Licht drangen unter dem Vorhang vor, farbige Punkte tanzten am Rande seines Gesichtsfelds.
Er schnappte grob nach ihrem Rock, bekam ihn aber nicht zu fassen. Immer wieder sprang der Zipfel fort wie ein Zehner an der Schnur, (den man alten Leuten vor der Nase wegzog). Schlechter Geschmack floss in seinem Mund zusammen; säuerlich und beißend, ein übler Brodem.
Dann kam der Stich in der Brust. Erik hielt den Atem an und schloss die Augen. Kraftlos sanken seine Finger auf den Sessel. Warum war es nur so un-glaub-lich heiß hier drin.
„Was ist…?“ hörte er sie flüstern. Ihr Zigarettenatem brandete gegen seinen Gesichtsschweiß. Als er die Augen aufschlug, war sie unmittelbar vor ihm — eine Hand an seinem Schritt, die andere auf seiner Brust, zirkelnd unter dem Shirt, unter dem sie einen 3D-gedruckten Widerstand erspürte. Irritiert wechselte ihr Blick zwischen seinen Augen hin und her. „Was… ist das?“
(Raue /Rohe/Alte) Töne krochen Eriks Kehle rauf. „Ich… bin…“
Sie sah ihn an. Es war, als konnte sie sehen. Das ich. das bin, was mit ihm war, wie es ihn beutelte.
Es piepste digital an seinem Handgelenk und Eriks Ständer verwelkte in der Hose. Wie ein umgekehrter Pawlow-Hund. Er stemmte sich aus seinem Sessel, schob sie beiseite und taumelte zum Vorhang, bemüht, das überraschend schwere Ding zu spalten. Ihr Schnaufen klang beleidigt. Vielleicht verärgert, nachtragend. Er schob sich durch denVorhang und hörte sie von hinten rufen: „Junge, du hast ein Problem!“
Erzähl mir was Neues, dachte Erik, scheiternd an der Stummschaltung seiner Pulsuhr. Können Finger traumatisiert werden? Schnaufend und piepsend stampfte er durch den Cocon, spürte Ärger in der Brust und Enge, kam an Scorpion, Schlange, Absperrband vorbei, an skeptischen Gesichtern, verwirrten, geilen. Sein hassgeladenes Getorkel war ihnen suspekt, das Piepen seines Messgerätes rätselhaft.
„Noch nicht!“ keuchte er einer Alten mit Blindenhund zu, die auf den Signalton einer Kreuzungsampel wartend sich nach Eriks Piepsen reckte.
Im Taxi hatte er die Pulsuhr vom Handgelenk gefummelt und den Alarm gestoppt. Er streckte sich flach auf der Rückbank aus, lockerte den Brustgurt.
Tumber Schmerz, eindimensionale Enge. So unangenehm wie auch egal. Unangenehm egal.
Er musste durchatmen, sich ablenken, bis er zuhause war.
Zuhause, wo die Tabletten lagen.
Wo sie hingehörten.
Wo er hingehörte.
(Ende des ersten Kapitels. Wenn ihr informiert werden wollt, wann das Buch erscheint, schreibt mir eine kurze Mail mit dem Betreff „Zufallsrauschen“, dann setze ich euch auf die Mailingliste. Kein Spam. Versprochen. Und danke fürs Lesen.)