„Harmonische Kadenz“


Sie sagten mir: 

Erzählen Sie von drinnen, ohne das Innerste zu nennen.

Also schön.

I


Vergangene Woche

war sie in Klabulek; Appetit aufs Land, wie sie es nannte.
Bei ihrer Ankunft am kleiner Klabuleker Bahnsteig stellte sie sich Flüchtende vor, schwer durch die Nase atmende Männer, die das Dorf in langen, leisen Wagen durchfuhren und dabei dachten: ‚Das vor sich Hinhätscheln mit Bäuerin und Hennen und dürfte für genügend Ablenkung sorgen.‘ Sie gab sich weltmännisch in Klabulek; sagte Dinge, die Städter auf aus Fernost importierten Laternenfesten undendlos langenRolltreppen sagten, warf mit Gesten um sich, die nur in U-, S-, und Straßenbahnen Sinn ergaben. Sie kaute Reißnägel nicht ab. Sie drückte sie zurück ins Nagelbett.

Das klabuleker Land besaß, was sie erwartete: Verrottende Traktoren, eingehufte Reitschneisen und melancholische Grundstimmung am späten Nachmittag; die Art von kalter, deutscher Stille, die auf Naturflächen ruhte, sobald die Sonne tief genug darüber stand. Morgens gabs dann den Kaffee, und zwar Filter, ohne Zischen, Schäumen, Pumpenbrummen, nur das stete Tropfen durchs Papier, kackbraun und natürlich von Melitta; dazu ein Gläschen Kuhmilch, von der lieben Liesl nebenan.

Was noch. 

Die Straßen und Alleen waren nach dem Aufregendsten benannt, was die Gegend kannte, meist Hügel oder Bäume, und hauptsächlich brummten Rübentrecker und vereinzelt Pendler darüber. Am Straßenrand fand sich Gehöft, Geställ, Gebälk, das meiste gut in Schuss, hier und dort auch mal verlassen und verfallen. Perfekt für klandestine Gruppen, die auf dem Lande heimlich tagen wollten. 

Die Bewohner waren schlicht und doch komplex, fand sie, nicht dusslig oder simpel, keine Mundatmer, Kornköpfe und Geflügelschänder: Schlicht. Das war ein Unterschied. In ihrer Schlichtheit wurden sie bisweilen vielschichtig und unergründlich, insbesondere abends. Da war dieses Kommunizieren über ausgeschnittene Zeitungskolumnen, die man den Nachbarn ‚zur Kenntnisnahme‘ (wie es hieß), verstohlen in die Briefkästen warf, oder das fast schon heimliche Ausleihen und Zurückgeben von Gerätschaften, das nach rätselhaften, unbenannten Richtlinien stattfand, da war der dorfeigene Krämerladen, dessen Sortiment nur Dinge führte, die niemand je zu kaufen schien, da waren die Schubkarrenrennen, der Kürbisweitwurf, das Einfangen ausgebüxten Viehs, und all das in einer Ernsthaftigkeit, die in der Stadt niemand je für irgendwas aufbrachte.

Bis zu seinem Tod auf dem Massagesessel eines Wiener Feinkostladens, schuf klabuleks Bäcker nussbasierte Brötchenkreationen, denen der ganz Ort verfallen war. Nun kamen die Brötchen via Drohne aus dem Nachbardorf. Ein schönes Erlebnis für die Jüngsten, die den morgendlichen Flug per Steinschleuder mit angeflanschtem Laserpointer sabotierten. Die Drohnen trugen aber Kameras, weswegen die Jüngsten dumm waren und ihr Taschengeld gekürzt bekamen.

Ob Land oder Stadt oder irgendwas dazwischen, dachte sie. Einfach strunzdumm, die Jüngsten. Je jünger, desto strunzensdümmer.  Die älteren waren wohl in Ordnung. Schlicht, vielschichtig, auf ihrer Art in Ordnung.

Es war kaum eine Woche Klabulek vergangen, drei Tage um genau zu sein, da traf sie Schnürchen. Schnürchen war so süß wie sein Name: Jung und unschuldig (hoffentlich nicht dumm), ewig verspielt mit braunen Augen, braunen Haaren. Ein bisschen klein für sein Alter, aber das passte nur zu seiner süßen Schnürchenhaftigkeit. Falls Sie jetzt denken, wo geraten wir denn hier hin, und ist die namenlose Protagonistin (sie heißt Klara) irgendwie infantil magnetisiert oder handelt es sich um einen schlechten erzählerischen Kniff (ist Schnürchen einfach nur ein süßer Hund?), dann bitte ich Sie noch um einen Augenblick Geduld, denn wir werden das noch aufdecken, und nein, ich plane nicht, respektlos mit Ihrer Zeit zu sein.

An diesem schönen Tage wollte sie, Klara, also gerade völlig unverfänglich an Schnürchens Haus vorbeieilen (und es war imperativ, dass sie eilte und nicht, wie etwa die Klabuleker, schlenderte oder wackelte oder gar juckelte), in der Hoffnung, den ein oder anderen Blick auf dessen Niedlichkeit zu erhaschen, da klingelte ihr Handy. 

„Ich reis zum Wochenende wieder ab“, sagte Klara und beäugte Schnürchens Fenster. „Yes, nope, nein, mach dir keine Sorgen, Mama,“ (sie flüsterte das Wort), „in der Stadt hast du dir nie Sorgen gemacht, ich meine, da lauern doch die Räuber, Trickbetrüger, die falschen Freunde, die Heiratsschwindler und die STD-verseuchten Pickup-Artists. So’ne Art Abschleppkünstler, Mama. Ich bin doch auf dem Land, hier juckelt alles friedlich vor sich hin. In Klabulek. Hatte doch erzählt. Hatte nicht? Irgendwo im Norden, ein süßes Ding im Norden. Okay? Okay, ja, ich melde mich. Ja, Ich dich auch, Mami.“

Als sie auflegte, bemerkte sie, dass Schnürchen aus dem Fenster starrte. Nicht erwartungsvoll oder aufmerksam oder irgendetwas, das ihr Herz hätte springen lassen, sondern… freudlos? Ja. Ein freudloser Blick. Der vermutlich auch so bleiben würde. Der auch so wäre, wenn sie tagelang metropol unter seinem Fenster langschritt. Das wusste sie irgendwie. Der war halt so. Der Blick. Schnürchen blickte Klara freudlos hinterher, dem eilenden städtischen Fortgang, öffnete noch den Mund ganz leicht und verschwand dann kurz darauf im zugespitzten Winkel seines Fensterrahmens, ähnlich Klara, die hinter einer fetten Eiche abging, den Kopf noch leicht in seine Richtung reckend.

Das war also Klabulek, ihr Klabulek. 

Der Himmel ihres Dörfchens wurde violett, dann blau, dann dunkelschwarz, dann wieder Karmesinrot (viel röter und karmesiniger als in der Stadt), fledderte aus, zerfaserte in babyblau und weiß, überstrahlte ihren Versuch einen alten Bunker vor zerfurchtem Ackerboden aus einer schönen, tiefen Perspektive auf der Reisestaffelei zu malen, belauschte ihre Unterhaltungen am Dorfplatz, alte, junge, mittelalte Dorfbewohner, mitunter Leute aus der Großstadt (sie war überrascht, wie sehr sie das missbilligte), überwachte ihre Untersuchung in die Welt des Nussbrots (Drohne), tauchte ihr agrarisches Ermitteln in ungekanntes, wundersames Kolorit, bis der Mittwoch um die Ecke kam und viel zu schnell sein Ende fand, in Spaghetti Bolognese Landversion, also mit Ketchup und Milch und senfgestreckten, tischtennisballgroßen Klößen, zubereitet mit Leitungswasser aus dem alten Dorfbleirohr.

Es war an diesem Mittwochabend, dass Klara plötzlich einen kleinen Schmerz am Rande ihrer Seele spürte. Sie wickelte die breiten Bauernnudeln auf die Gabel und sah sich den Seelenzustand näher an. 

Okay, gut, kleiner Fragenkatalog, der abgearbeitet werden wollte, ohne Ablenkung, Screens, sonstige Devices. Deshalb war sie hier.

Liebe Seele: Schmerzt du an deinem Rand, weil:

A) du trauerst, dass die Hälfte unserer Zeit in Klabulek bereits vergangen ist?

B) weil’s genau andersrum ist und du nach hause willst? Du dich unbehaglich fühlst? Ist das die kleine Wahrheit, die dich an deinen Rändern schmerzt?

C) du irgendwas mit… Schnürchen…? Streicheln…? UMARMEN? Äh, Seeeeele? Nax! Du wirst doch nicht!

Es klopfte an der Tür. Die Gastfamilie, bei der sie die Woche wohnte, bestand aus einem älteren und kinderlosen Ehepaar, das im Begriff war, den Bürgermeisterposten abzulegen, da er, der Hausherr, der Peter, das, wie er sagte, schon viel zu lange machte, wobei Klara sich fragte, was es an einem Ort wie Klabulek schon groß zu machen gab. Meistern gab. Selbstläufer much? Seine Frau, eine Madleen mit zwei E im Namen, war, wie Peter selbst, ländlich-freundlich, das heißt, dass sie dich in Empfang nehmen, dir geben, was du brauchst (aber nichts darüber), dich füttern mit ihren kernigen Dorfmahlzeiten und eben Spaghetti Bolognese Landversion, weil sie glauben, dass Städter sowas jede Woche essen wollen, aber sie erwarten auch, dass du dich in wenigstens geringster Weise nützlich machst. Du machst den Tischdienst, machst die Stube. Vielleicht machst du mal die Haustür auf. Nach Zustimmung aber erst: du bist zu Gast, vergiss das nicht.

Klara, Zustimmung, Haustür. 

Oh Gott. 

Oh Gottogott. Schnürchen.

Klara wortlos, Schnürchen wortlos. Haustür offen. Die Gastgeber im Hintergrund, die dicken Klöpse dampfend auf den Tellern. Schnürchen schielte rein, durch den Kloßdampf Richtung Gastgeber, die grimmend zurückschielten.

Klara holte Luft, um was zu sagen, Schnürchen zu berühren vielleicht, ihn zu Streicheln (Sie glauben immer noch, Schnürchen sei ein Hund?), zu umarmen, was aber seltsam wär, weshalb sie nur sagte: „Oh, Schnürchen…“

Schnürchen sah aus, als wollte er sich äußern, doch die Gastgeber zürnten Richtung Tür: „Schnürchen. Wir essen. Wie immer um halb sieben.“

Abgang Schnürchen, Tür im Schloss. Abwesend starrte Klara noch zwei, drei Sekunden die weiß getünchten Astlöcher durch, dann ging sie zum Tisch und wandte sich ihren Nudeln und viel zu großen Klöpsen zu. 

Immer noch ein halber Teller. Das passte nicht in ihren Magen. Physikalisch unmöglich. Trug man ihr wahrscheinlich nach. Leute vom Land hielten jedes Detail im Kopf fest, zeichneten alles auf. Weniger Ablenkungen und so. Zu ihrer Überraschung gab es hier nicht mal Computer. Als sie am Tage ihrer Ankunft frohgemut erklärte, was sie an der Ländlichkeit schätzte (Luft und Ursprung, verlangsamte Zeit und Weite, die ehrlichen, nicht simplen sondern schlichten Gemüter), entgegneten die Gastgeber, man verzichte gern auf das Moderne, nutze auch keine Disketten oder sowas.

Klaras Gehirn so: Disketten? Die kannte sie ja selbst nur noch aus Filmen.

Aber die Nudeln. Sie könnte natürlich versuchen, den Zustand ihres kleinen Städtermagens zu beschreiben (er ist so voll!) und sich irgendwie aus der Verantwortung für den immer noch nicht leeren Teller ziehen. 

Aber soweit kam sie nicht. Es klopfte wieder an der Tür. 

Schnürchen?

Diesmal öffnete der Hausherr seine Tür. Peter war ein ruffiger, vergruffter, schätzungsweise fünfzig Jahre alter Mann mit dicken Pranken. Sein Brusthaar wühlte sich durch sein Hemd zum Hals raus und unterstrich die allgemeine Ungepflegtheit, die Klara für eine Form der Enigmatik hielt. Als er die Tür aufgeprankt hatte, stand dort ein Mann vom Nachbarshof. Das konnte Klara aus dem Gespräch heraushören, Tür und Besuch selbst konnte sie von ihren Bauernnudeln aus nicht überblicken.

„Jonasch, was gibt es? Wir essen. Halb sieben.“

„Wir auch, Peter. Ist auch bei uns halb sieben. Wir haben das Problem von letztem Monat.“ Kurze Pause, dann: „Diese Frau. Weißt ja. War wieder da. Du weißt ja welche.“

Stille mit Gewicht. Peter, leiser, in Klaras Vorstellung leicht vorgelehnt: „Ich weiß welche. Ich habe mit ihr geredet. Wir haben alle mit ihr geredet. Wir waren hinten im Hof mit ihr.“

„Ich weiß Peter. Ich habe auch geredet. Trotzdem ist sie zurück. Was soll ich sagen. Die Gespräche haben nicht gewirkt.“

Klara vernahm ein langes Schweigen. Dann brummte Peter „Scheissdreck“ und kurz darauf, leise und betreten: „Verzeih, Maddl.“ 

Peters henkelohrige Gattin saß Klara schräg gegenüber und schüttelte den Kopf. Sie machte eine Handbewegung, eine vermutlich schon zu oft benutzte Geste Peter gegenüber, eine der Purifizierung und Austreibung. Peter konnte es nicht sehen, aber die Verbindung stand.

„Wie sind wir aufgestellt, Jonasch? Hast du den anderen was gesagt?“ 

„Bin direkt zu dir.“

„Gut. Konsilium. In einer Stunde. Bereite vor. Und dann gib den anderen bescheid.“

„Es ist überall halb sieben, Peter.“

Klara hörte die Dielen knarren, als Peter einen Schritt nach vorne tat. Etwas klimperte, als ob er eine Kette oder so hervorholte.

„Okay“, hörte sie den Nachbarn sagen, „ist gut, Peter. Ist gut.“ Abgang Nachbar, Tür geschlossen. 

Klara erwägte, ihre Hilfe anzubieten, mit ihrer umfangreichen städtischen Erfahrung ein Licht in diese prekäre aber dörfliche Angelegenheit zu bringen, hielt sich jedoch zurück. Vielleicht sollte sie sich zuerst um ihre Nudeln kümmern. Es war absolut möglich, dass die an einem Ort wie diesem zuerst kamen. Sie überlegte, ob man hören würde, wenn sie auf Toilette heimlich Raum für die zweite Tellerhälfte schaffte. 

„Klara, bitte entschuldige“, sagte Madleen. „Peter und ich müssen uns um etwas kümmern. Wir möchten nicht unhöflich sein, aber wir müssen das Abendessen leider abkürzen.“

„Ist kein Problem“, gab Klara erleichtert zurück. „Kann ich irgendwie helfen?“ 

Peter sah sie nickend an. „Ja. Geh hoch. Und bleib auf dem Zimmer.“

Klara wartete auf den Madleen’schen Tadel, ob dieser unhöflichen und freiheitsmindernden Aufforderung. Nachdem Madleen still blieb, sagte sie: „Okay. Okay, klar.“ 

Sie überlegte: Was war sie? Höflich? 

Oder Hörig?

Vielleicht, dachte sie, hätte der arme klabuleker Bäcker sein Dorf gar nicht erst verlassen dürfen.

Oben platzierte sie das Glas Wasser und den Stapel Bücher, den sie aus der Hofbibliothek mit hochbalanciert hatte, auf den Buchenschreibtisch vor dem einzigen Fenster ihres Zimmers. Das Haus von Peter und Madleen war ein ein Museum verfallener und noch nicht eingerahmter Traditionen. Nicht nur das Haus, dachte sie. Nicht nur das Haus.

Um sich doch noch zu einem ersprießlichen Abend zu verhelfen, nahm sie einen großen Schluck Wasser, eine zur Sicherheit eingepackte Städterpille und die ersten Bücher in Augenschein. Mal sehen, was gabs. Vom dünnen Heftchen über Stanzbroschüren bis zu veritablen Schinken, alles überraschend unbäuerlich in den Thematiken. Sie schlug den ersten Schinken auf, begann zu lesen. 

Vielleicht, dachte sie nach einer Weile, hätte sie ja doch mal fragen sollen. Was hier los sei, nämlich. Dass Peter und Madleen von selbst nichts sagen würden — klar; offensichtlich. Aber wenigsten fragen… Das wär doch okay gewesen. 

Wäre doch. Oder?

Sie überlegte ihre Mutter anzurufen. Aber sie war ja nicht mehr fünfzehn. Sie warfünfundzwanzig. Das waren zehn Jahr mehr. Volle Dekade Stadt, die oben drüber saß; Zement, Glas, Stahl. Und hier? Reisig, Schiefer, Holz. Dazwischen Backstein. Das war ja schon mal was. Mit Backstein konnte sie umgehen. 

Sie sah aus ihrem Fenster. Einfachglas, backsteinummauert. Zweite Etage. Beziehungsweise erste. Manchmal brachte sie das durcheinander, weil sie bei eins zu zählen anfing, nicht bei Erdgeschoss oder Null oder Level oder so. Mathe. Nicht ihr Ding. Gehörte das zu Mathe? Geologie? Bausachkunde? Allgemeine Logik?
Die Unterkante des Fensters, das dummerweise auf den Teil des Hofes führte, der von einem eifrig-sensiblen Bewegungsmelder abgetastet wurde, lag zwei Meter über dem mit Teerpappe überzogenen Zwischendach aus Holzbalken. Wenn sie an dessen statisch starken Seiten (links, rechts, auf keinen Fall hinten, vorn) aufkam, und sich an der selben Seite runterließ, dann käme sie hier raus. Aus ihrem heimeligen Backsteinknast. Blieb noch die Frage, wie sie wieder reinkäme. Aber das war wohl was für Zukunftsklara. 

Ihr Handy klingelte. Anonymer Anruf.

„Ja, hallo?“

„Hallo…“

„Ja… und?“

„Ich bins…“

„Wer ist ich?“

„Klaas.“

„Klaas…? Bist du…“ Die Härchen auf ihrem Arm kamen in Bewegung. „Schnürchen…?“

„Haben sie dich eingesperrt?“

„Was? Nein, niemand hat mich eingesperrt…“

„Hast du schon versucht, die Tür zu öffnen?“

Kurz überlegte sie, ob er irgendwo stand und per Fernglas oder Drohne oder sowas zu ihr reinlinste. Wobei, dass sie ein eigenes Zimmer auf einem Hof wie diesem hatte, und sich nach den offenbar überall verabredeten Essenszeiten in diesem aufhielt, war wohl schlicht und einfach zu erwarten. Und dass der Dorffunk die kleine Aufregung vom Abendessen überall hintrug, war auch nicht grade sonderbar, zumal Schnürchen zu jenem Zeitpunkt sicher noch in der Nähe war.

Nur, dass er vermutete, sie käme hier nicht raus. Das war irgendwie seltsam. 

Plus, dass Peter und Madleen ihn so schnell loswerden wollten.

Plus das kleine Detail, dass er ihre Nummer kannte.

Das war doch Schnürchen, oder?

„Die Tür geht auf, Schnürchen“, sagte sie, in der Hoffnung, er würde der Ansprache irgendwas entgegnen, wobei sie fast Schnütchen sagte, als sie an sein niedliches Gesichtlein dachte. Sie spähte durch die Tür hinaus. Der Gang dahinter lag dunkel und verlassen bis zur Treppe da, dieBadezimmer und Dachboden-Türen gegenüber standen offen. „Alles frei. Alles normal. Die lassen mich doch nicht ins Bett pinkeln, nur weil die was besprechen müssen.“

„Komm da raus. Solange du kannst.“

„Was soll das“, lachte sie leise, „bisschen viel Mystery-Podcasts gehört? Hörst du sowas schon? Wie alt bist du eigentlich?“

„Fünfzehn, und ich darf nur Kassetten. Komm raus, bitte. Bevor sie abschließen.“

„Was, warum sollten sie? Ich hab nichts gemacht,“ sagte Klara (und ignorierte die unverspeisten Bauernnudeln). Sie wartete auf seine Antwort zu diesem, doch, ja, Mysterium, aber die Leitung schwieg, war wohl unterbrochen und von Schnütchen sorry, — Schnürchen — sorry, Klaas! nichts mehr zu hören. 

Gestatten Sie mir an dieser Stelle zwei Bemerkungen:

Erstens: Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Schnürchen kein Hündchen ist. Glauben Sie vielleicht, ich hätte Spaß daran Sie an der Nase rumzuführen? Würden Sie mich besser kennen, würden Sie an allem zweifeln — nicht an meiner Integrität.

Zweitens: Wenn Sie denken, dass Schnürchens Anruf etwas an Klaras grundlegenden Möglichkeiten geändert hat, dann möchte ich Sie ermutigen, die letzten Minuten noch mal zu überdenken. Es sollte doch klar sein, dass Schnürchen Klaras Optionenkatalog samt operativer Verästelung keinesfalls erweitert hat. Er hat lediglich ihre Motivation beeinflusst. Die Optionen sind die selben wie zuvor. 

Sie kann:

A) sich niederbetten und auf Klärung am nächsten Tage hoffen, Donnerstag

B) ihr Glück mit Treppe und Madleen versuchen, sich eventuell nach draussen schleichen, oder probieren ob sie nicht wirklich einfach gehen beziehungsweise eilen oder ausnahmsweise juckeln darf

C) die Leiter zum Dachboden auf Aushängbarkeit untersuchen, im Bestfall aus dem Fenster auf den Vorsprung lassen und somit auf den Hof abklettern.

Wenn sie jetzt folgern, dass Klara Option B wählt, liegen Sie richtig: Sie ist Städterin (Neigung C) in ländlichem Milieu (Neigung A), wodurch aus psychohydraulischer Sicht Option B hervorgehen muss. Gut.

Klara zog sich ihre Schuhe an und legte sich die Jacke über. Dann legte sie die Jacke zurück über die Stuhllehne, weil es Sommer war und die Abende nicht kalt. Sie stieg die Treppe runter; leise, achtsam, voller Unbehagen und außen an den Stufen, da —obwohl vom Stufenteppich nicht bedämpft—, das Holz dort am wenigsten laut knurrte. Unten im ersten Stock, nein, Erdgeschoss, umfasste sie das Treppengiebelchen und ließ den Oberkörper herumgleiten. Sie spähte in Küche und Wohnstube. Keine Madleen, kein Peter. 

Warum, fragte sich Klara, als sie auf Zehenspitzen Richtung Haustür schlich, hatten die hier keinen Hofhund? Und warum war alles bloß so gott-ver-dammt rückständig? Das war nicht rustikal und genuin. Das war bewusste Rückständigkeit, beschloss sie. Da war das Uralt-Telefon mit Wahlscheibe, das an ihr vorbeizog, der Fernseher mit Holzverkleidung und spindeldürrer Teleskopantenne, der verwitterte Kamin statt Heizung, die zum Teil der Anrichte gewordene Nudelmaschine, der Plattenspieler unter dem riesigen Quecksilberthermometer, der Aufziehwecker neben ihrem Bett, das angelaufene Besteck, das Butterfass, die Pferdekotsch und Handpumpe im Hof. Ein rostiges, altes Ding, das stöhnend und keuchend bloße Echos von Wasser hochsaugte. Alles funktionierte. Nur gerade noch. Und irgendwie in mono. 

Klara hatte die Haustürklinke in der Hand und wähnte sich bereits entkommen, als es von hinten hieß: „Wohin so spät?“ 

„Oh“, machte Klara. Sie drehte sich um, sah Madleen erschrocken an und wiederholte: „Oh. Ich würde gerne noch einen kleinen Spaziergang machen, Madleen. Die Klöpse…“ Demonstrativ wog sie die vorgetäuschte Last in ihrem Bauch mit den Händen, schau nur, wie voll, das ist eure Schuld, aber mit flachen Bäuchen gelang sowas nicht gut.

„Du könntest mir helfen“, sagte Madleen.

„Ach,“ entgegnet Klara. „Ach. Wobei denn?“

„Hol deine Jacke. Ich warte hinten auf dich.“

„Hinten,“ fragte Klara, „im Hof meinst du?“

Madleen nickte.

„Und wir machen da… was?“

„Es ist Sommer“, sagte Madleen, „aber es ist frisch. Du weißt was das bedeutet.“ 

Klara sah sie nickend an.

„Hol deine Jacke.“

„Okay,“ sagte Klara und ging die Treppe wieder hoch. „Ich hol die Jacke.“

Klara war also fünfundzwanzig. Das möchte ich noch mal erwähnen. Und ja, ich höre Sie: Keinesfalls ein arrivierter Mensch oder ein gereifter Geist. Aber immerhin doch fünfundzwanzig. Sie brauchte weder Genehmigung noch Gutheißung, musste auch nicht rechtfertigen, wenn sie abends noch spazieren wollte. Warum sie dennoch —hörig beinahe, sklavisch fast—, die Treppe hochging um ihre Jacke zu holen, war ihr selbst nicht klar, aber eventuell in den seltsamen Schwingungen begründet, die diesen Hof durchwehten. Da war das Verhalten von Peter und Madleen, P und M, wie sie beschloss sie ab sofort zu nennen —PAM vielleicht? Nein, das war zu viel—, dieses ungenannte Ereignis mit der ungenannten Frau, welches P und M nebst Teilen Klabuleks auf sonderliche Weise aufzuscheuchen schien, der Anruf von Schnürchen, der von all dem Wind bekommen hatte. Die Tatsache, dass er ihre Nummer hatte.

Dass er sicher war, sie würde eingesperrt.

Sie stand mit ihrer Jacke oben an der Treppe und sortierte die Mysterien. Die meisten war’n ja nicht mal welche. Hatte sie eben noch gelesen, in einem der Wälzer aus der Hofbibliothek, kurz bevor der Anruf kam. Synchronizitätserlebnis, hieß das (—nicht der Wälzer, der hieß Einführung in die Synchronetik), dastrügerische Gefühl von größeren und tieferen Verbindungen, Ursache: Bestätigungsfehler, falsches Korrelat und, wie so häufig, maßlos überschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit. Oh, wie tief menschlich! Zum besseren Verständnis, schlug der Wälzer weiter vor, ziehe man die Begleitschinken Numeri Fati und die Gematria, sowie Resonanzjahre: Strukturketten zu besserer Zukunft zu Rate, die, das hatte sie gesehen, sich ebenfalls in der P&M’schen Bibliothek befanden, von unaussprechlichen Herausgebern verlegt und nach unklaren Kriterien von Bauernhand sortiert. Wie schön.

Sie schaute aus dem Fenster. Wenn jetzt weder Mysterium noch tiefere Verbundenheit im Hofe hinten auf sie warteten, sondern einfach nur Madleen, die Klara dann nicht mysteriös sondern schlichtweg unsympathisch vorkam, konnte sie genauso nach Verbundenheit bei Schnürchen suchen gehen. Kausalkette.

Damit ließ sie die (—Heureka—) tatsächlichabnehmbare Dachbodenleiter an ihrem Zimmerfenster ab und kletterte hinunter auf den Vorsprung. Option C dann eben. Die Leiter flach auf die Teerpappe gelegt, am Außenrand des Vordachs abgehangen und unter den Bewegungsmeldern langgepirscht und schon war sie im Maisfeld. Rostige Fahrradrahmen, Hühnerknochen und unvollständig explodierte Böllerreste kamen ihr entgegen, und jede Menge Zecken.Sie fragte sich, was Schnürchen ihr zu sagen hatte. Was so dringend war. Vielleicht ging es um Peter und Madleen und dorfumfassende, schreckliche Interna. Was nistete in Klabulek? Verklappte Reste von Caesium-137 im Stein,geheime Wahlen, Ränkespiele, üble Hebel, die von außerhalb betätigt wurden? Und war sie nicht gerade bei dem Beschluss angekommen, die meisten Mysterien seien gar keine? 

Synchronizitätserlebnis und all das?

Sehen Sie sich um. Sehen Sie, wie gut es allen geht, wie zufrieden alle sind, in der stillen Kälte, die ihre Abende füllt.

Schön. Machen wir weiter.

III 

Als sie 

vor Schnürchens Haus stand, zählte sie zwei Autos. Vater, Mutter. Vermutlich. Hatte er Geschwister? Eine landgestählte, große Schwester? Ein veritables Bauernbiest, da war sie sicher. Achtzehn Jahre alt und blond, stramme Waden, Ohrringe bis auf die Schultern, den Führerschein mit sechzehn, dann mit siebzehn konfisziert, am Freitag per ‚geborgten‘ Nachbarmoped in die Disse, Sonntagmorgens in der Scheune vom alten Hackenschmiedt den hackenschmiedtschen Nachwuchs in die Ballen drückend, Mund zuhalten bis sie fertig waren und ihn alleine alles wieder richten lassen — die Art von Mädchen, die Klara früh zu fürchten lernte.

„Du bist da“, flüsterte es hinter einem Strauch, laut genug, dass sie erschrak. Schnürchen kauerte in einer geheimnisvollenHocke, mit durchgestrecktem Rücken, als wollte er versteckt und trotzdem maskulin postieren.Was bei einem Fünfzehnjährigen sogar irgendwie durchging.

„Da bin ich“, gab Klara flüsternd zurück. „Sagst du mir, warum?“ 

„Komm mit“, flüsterte Schnürchen und nahm sie tatsächlich an der Hand. „Wohin?“, fragte Klara, am Haus vorbei in den dunklen Garten dahinter gezogen. In dessen Düsternis tauchte ein alter Pavillon vor ihr auf, ein hölzern hingestelltes Ding, das schon bessere Tage sah, und auch von denen offenbar nicht allzu viele. Viel befand sich nicht darin: ein alter Schreibtisch mit entfachter Gaslaterne, ein wackliges Regal voller Papiere, Zettel, Unterlagen und eine schäbige Matratze in der Ecke. 

„Hast du dich… hier eingerichtet?“, flüsterte Klara und sah sich um. Sie widerstand dem Drang ihr Handylicht zu nutzen.

„Ich bin im Haus nicht unbeobachtet“, sagte Schnürchen nur.

„Und hier? Bist du?“

„Meine Eltern treffen sich mit Leuten aus dem Dorf, nur meine Großmutter ist da. Aber die ist um diese Zeit im Bett.“

„Ich rate mal: Treffen mit Peter und Madleen?“

Er nickte.

„Was ist mit deiner Schwester? Ist die zuhause?“

„Schwester?“

Eine Sorge weniger. „Sag mal, warum waren P und M eigentlich so barsch mit dir? Als du vorbeigekommen bist, vorhin?“

„Du musst nicht extra dörflich mit mir reden.“

„P und M? Das ist doch städtisch. Wir kürzen alles ab.“

Barsch.

„Ach so. Auch städtisch. Altdeutsches Wortgut reanimieren. Warum soll das aussterben.“

„Vielleicht auch, weil’s so schön vintage ist?“

„Vielleicht.“

„Naja, was Peter und Madleen angeht… Kennst du das, wenn zwei Parteien eine bestimmte Sache unterschiedlich auslegen?“

„Wie zwei GPS-Systeme, die verschiedene Routen durch die selbe Stadt errechnen?“ 

„Kenn ich mich nicht mit aus. Aber Rechnen trifft es gut.“

Sie sah ihn schulterzuckend an. „Und? Was ist der Casus Knacksus? Willst du mir sagen, dass du und P und M nicht routenkompatibel seid? Oder so ähnlich?“

„Oder so ähnlich. Sag mir, was du von denen mitbekommen hast. Heute Abend, nachdem ich da war.“

„Nicht viel. Dieser Nachbar —“

„Jonasch?“ 

„—ja, der hat wohl schlechte Neuigkeiten gebracht und er und Peter und Madleen und wasweißichwernoch besprechen das jetzt.“

Er sah sie eine Weile an, nickte leicht und sagte dann: „Das Ganze hängt ein bisschen größer zusammen.“ 

Hängt größer zusammen, dachte Klara, gerade, als sie sich so schön eingeredet hatte, dass da nichts weiter war, als ein aus der Proportion geblasenes Synchronizitätserlebnis. 

„Haben die beiden noch irgendwas gesagt“, fragte er, „zu Jonasch?“

„Da war wohl eine Frau.“

„Ja. Da ist eine Frau.“

„Irgendeine alte Liebschaft, die sich ihren Bauernkerl zurückholt?“ 

„Ich weiß es nicht. Aber Peter und Madleen halten sie für schwierig.“

„Okay“, sagte Klara, „na gut. Jetzt frage ich mal was: Woher hast du meine Nummer?“

„Deine Telefonnummer?“

„Klar meine Telefonnummer.“

„Aus dem Register.“

„Aus dem Register.“

„Alle Besucher werden angemeldet. Macht ihr das anders in der Stadt?“

„Wir melden gar nichts an. In Hotels muss man seinen Ausweis vorlegen.“

„Musstest du hier auch. Unter Garantie.“

„Musste ich? Könnt’ mich nicht erinnern.“

„Hast du per Telefon gebucht?“

„Ging nicht anders. Peter und Madleen haben ja kein Internet.“

„Und kein Handy. Du hast also angerufen. Auf deren grünem Wählscheibentelefon.“

„Ja, denke ich.“

„Das Ding im Flur auf der alten Holzkommode. Da sind sie rangegangen und haben deine Nummer aufgeschrieben, auf dem Krizelpapier daneben. Dann haben sie eine Kopie von deinem Ausweis angefordert. Per Post. Unter Garantie.“

„Kann sein. Vermutlich. Ich hab das vor ’ner Ewigkeit gebucht. Und du sagst, die haben ein Register und da stehn’ meine Daten drin.“

„Alles wird in einem stetig wachsenden Register festgehalten.“

„Alles? Was meinst du mit alles?“

Er sah sie wortlos an.

„Und da hast du Zugriff drauf? Auf dieses Register?“

„Ich verdien mir was dazu. Botengänge, Büroarbeit für Peters Bürgermeistertätigkeit. Sie vertrauen mir.“

„Nur nicht genug um dich zum Abendessen reinzulassen.“

„Das hat andere Gründe. Und, es war Peter, der mich weggeschickt hat, nicht Madleen. Jedenfalls wird hier alles festgehalten.“

„Verscheisserst du mich, Schnürchen?“

„Ich heiße Klaas,“ gab er leise zurück.

„Ich meine… Klabulek ist doch kein Kurort oder so. Hier muss doch niemand Pfand und Kurtaxe und so zahlen, mit Ausweis und Nummer angemeldet werden. Ich bin extra hierher gekommen, um keine von den Angemeldeten zu sein.“

Er nickte. „Du wolltest Klabulek für dich allein.“

„Wollte ich. Ist das so ungewöhnlich?“

„Das wollen alle.“

„Wer ist jetzt schon wieder alle? Warum tust du so geheimnisvoll? Dass du fünfzehn bist, heisst nicht, dass du alles ins Geheimnisvolle ziehen musst.“

„Ich tue nicht geheimnisvoll. Klabulek ist ein Ort. Orte werden besucht, Nummern werden gespeichert. Nur, weil einige hier keine Computer haben und handgeschriebene Register führen, ist die Zivilisation und Zeit bei uns nicht stehengeblieben.“

„Nicht? Ich reise umgehend ab.“

Da musste er lächeln. Ein süßschnutiges Ereignis, das in seinem Gesichtchen hing wie ein verbotene Frucht. Klara konnte nicht wegsehen. „Ausserdem bin ich fast sechzehn“, schob er hinterher, als ob das irgendetwas änderte.

„Okay. Na gut. Sag mir was anderes.“ Sie sah ihn eine Weile an. „Warum… Schnürchen?“

„Schwierige Geschichte.“

„Aber es gibt eine.“

„Ja.“

„Aber du willst sie nicht erzählen.“

„Ich finde Klaas besser. Klara und Klaas. Nicht übel, oder?“ Er lächelte ein bübisch-schnürchenhaftes Lächeln. 

„Ist ganz okay“, sagte Klara, ohne zu wissen, was sie damit meinte. Schnürchen sah sie an, wie Schnürchen einen eben ansah. Völlig klar, dass er irgendwas verbarg. Aber okay.

„Weisst du,“ sagte er, „du musst nicht auf uns herabblicken, nur weil wir vom Land sind.“

Klara zeigte ihr sanftestes Lächeln, in der Hoffnung, den Einschlag des folgendem abzudämpfen: „Manchmal muss ich auf’s Land herabblicken. Weil ich die Stadt sonst nicht mehr liebe.“

„Du hältst uns unsere Dörflichkeit vor. Und mir mein Alter.“

„Ich hielte niemandem was vor, Klaas. Ich komme aus der Großstadt. Wir sind demütiger und bescheidener als ihr je sein könntet.“ 

Er lächelte. „Das Dorf mit seinen fallenden Einwohnerzahlen, was? Der geheimnisvolle Ort, der bald verschwinden wird, mit all der schönen Individualität. Bist du deshalb hier? Willst du uns schnell noch zeigen, wie alles geht bevor wir aussterben? Hier, ich bin aus der Stadt, ich bringe Wissen und Moderne, dies ist der Zahnarzt, das ist der Funkturm. Dies ist ein eisgekühlter Matchalatte, das sind Verneers.“

„Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich deshalb hier bin.“

„Sondern?“

„Ich schätze Klabulek wegen dem, was es ist.“ 

„Rückständig. Stehengeblieben. Dinosaurisch.“

„Du gibst einem auch keine Chance.“

„Es bleiben ja nur zwei Dinge: Wettbewerb oder Flucht.“

„Und einfach Urlaub hältst du nicht für möglich?“

„Antike gegen Zivilisation, David, Goliath. Sowas fühlst du, oder?“

„Bist du sicher, dass nicht eher du so fühlst?“ Es gab auch noch etwas anderes, dachte sie, irgendetwas Subdermales, das man hier überall spürte aber nie ganz Greifen konnte. In den Dielen. In den Wänden.

Er sah sie eine Weile an. Dann nickte er kaum merklich und sagte: „Okay. Komm mal mit.“ Er steuerte Klara zur Ecke des Pavillons, in der die Matratze lag. 

„Schläfst du heimlich hier?“, fragte sie und bemerkte, dass sie wieder flüsterte.

„In letzter Zeit vermehrt“, sagte er, ebenfalls leise, setzte sich auf die Matratze, wühlte darunter herum und winkte sie zu sich.

„Ich soll… auf die Matratze?“, fragte Klara. Sie stand direkt vor ihm, überlegend, wie das wohl aussah, wenn jetzt jemand reinkäme, die liebe Großmutter zum Beispiel. „Was willst du mir zeigen?“, fragte sie. 

„Jetzt komm“, sagte Schnürchen und wühlte weiter unter der Matratze. Klara setzte sich neben ihn, sie fühlte sich weich und durchgelegen an. Die Matratze, Klara fühlte sichunsortiert und jazzig.

„Okay“, sagte Schnürchen. 

„Okay“, sagte Klara erwartungsvoll. „Zeigst du mir was…?“

Schnürchen nickte. Er holte tief Luft, drückte ihr etwas flaches, rechteckiges in die Hand.

Klara versuchte das Ding in ihren Händen zu erfühlen. Es war auf harmlose Art scharfkantig, mit rissig-gezackten Rändern und einer ringförmigen Ausbuchtung auf der flachen Sei— „Klaas!“ rief sie, hielt das Ding vor sich in die Luft, zum Restlicht, um hoffentlich, bitte, bitte, um Himmelswillen zu falsifizieren, was ihr Tastsinn vorschlug, aber: „Ein Präser??“ 

„Ich dachte, wäre besser. Wär doch besser, oder?“, sagte er mit ernsten Augen.

„Was? Nein! Was? Das ist überhaupt nicht besser!“ Klara sah Schnürchen —Klaas, Frechdachs, invertierter Humbert Humbert— zu ihr rüber schauen, überrascht und irgendwie verängstigt. „Vergiss es! Schmier’s dir in die Haare! Ich bin doch nicht pädophil! Und es ist immer, immer beschissener mit Gummi!“ Sie warf ihm das Ding vor die Füße. „Ich dachte, wir… Ach, fuck. Vergiss es.“ Sie stand auf und wollte gehen, aber Schnürchen griff nach ihrer Hand. „Klara, warte… wenn du… du wolltest doch wissen, warum sie mich Schnürchen…“ 

„Es ist mir scheissegal, KLAAS. Ich habe einen schrecklichen Verdacht, zwei, und ich will keinen von beiden bestätigt wissen. Jetzt lass los!“ Sie riss ihre Hand aus seinem Griff und stürmte davon. Von draussen sah sie noch mal in den Pavillon, sah die traurige, schnürchenhafte Silhouette auf der Matratze, beleuchtet von der einsamen, nackten Glühbirne, leicht gekrümmt und weitaus weniger gerade als zuvor. Sie überlegte, noch mal reinzugehen und irgendwas zu sagen, aber was, um Gotteswillen, was, und so drehte sie sich um und stampfte durch einbrechende Nacht inRichtung Straße.

Sie hätte ihn natürlich fragen können wie er sich das vorstellte. Sie, auf dieser (hoffentlich nur sprichwörtlich) abgenudelten Schlonzmatratze, auf der kaum Platz war, mit ihm, einem verfluchten Fünf-zehn-jährigen (wie sah das überhaupt rechtlich aus?), in diesem zugegebenermaßen romantisch zerbröckelten Hinterhofpavillon, wobei romantisch wie so oft nur Deckmäntelchen für sexuell geladen war, hätte fragen können, warum ausgerechnet sie, (weil aus der Stadt = automatisch zügellos, die zügellose städtische Versprechung auf den langen Beinen, von denen man sie nur noch runterpflücken musste?), was das alles sollte, wie das hier zusammenhing undsoweiter undsofort.

Hängt ein bisschen größer zusammen, hatte er gesagt. 

Verflucht noch mal.

Auf dem langen Weg zurück zum Hof von Peter und Madleen verfasste sie eine Biographie, die auch als Grabsteininschrift fungieren konnte: „Hier ruht Klaas Schnürchen, dorfgefürchteter Erwachsenenverführer mit umgekehrtem Lolita-Syndrom, super süß und trotzdem, ha!, abgeblitzt an Klara K., städtische Versprechung, lange Beine. Seine Niedlichkeit ward allein von seiner Flegehaftigkeit getoppt.“

Irgendetwas fehlte noch, dachte sie, irgendein biographischer Baustein, der noch nicht saß. Eine Begründung, warum er war, wie er war, tat, was er tat. Waren ihre Gastgeber so roh und barsch zu Schnürchen —und nein, den Namen hatte er verspielt, egal warum er ihn trug— zu Klaas, weil er ein dorfgefürchteter Erwachsenenverführer war? Wusste man davon? War das etwa nicht sein erstes Ding? War Klabulek der morallose Moloch, den paranoide Städter permanent zu finden fürchteten, sobald sie auch nur einen Fuß aus ihrer Stadt setzten?

Und dann fiel ihr doch noch ein, was sie ihn hätte fragen können: Warum er immer so bedrückt wirkte. Und nochwas: wie sie ans Register käme. Sie war ein anständiges Mädchen. Frau. Sie wollte einfach nur ihr Stückchen Klabulek, in dem sie rechtschaffen ihre kleine Seele baumeln lassen konnte. Und genau deshalb wollte sie in sowas nicht zu finden sein, generell nicht und schon gar nicht hier,an ihrem unmysteriösen, registerlosen, heimeligen Rückzugsort.

Was würde nötig sein, um sich aus dem Ding zu tilgen? Durchstreichen bis Unkenntlichkeit? Rausreissen? Tinte drüber? Auch, wenn es nicht digital war, speziell, da es nicht digital war, sondern unverschlüsselt, analog, in einer modrig-alten Holzschubade — sie würde sich ja wohl aus einem verfickten Dorfregister löschen können. 

Vielleicht hatte er recht, dachte sie. Vielleicht sah sie das wirklich wie er sagte.

Klara: Ihr seid hinten dran. Gut für’n Wochenendausflug.

Klaas: Ihr seid verkünstelt. Entfremdet von Wirklichkeit, Gemeinschaft und Natur. 

Stadt: Eure Zahlen schwinden. Alle ziehen in die Stadt, wer bleibt, versucht zu überleben. Die Zahlen stehen gegen euch. Die Zahlen siegen immer.

Dorf: Die Natur siegt immer. Die Natur steht gegen euch. Seht die Krebsinzidenz, seht die Herz-Kreislauf-Toten. Ihr seid kaputtzivilisiert. Diabetes, Abgas und Bürostuhl — alles tötet euch, qualvoll langsam, aber doch zu stilvoll, als dass ihr was dagegen tun könnt.

Zahlen: Du bist fünfzehn. Ich bin fünfundzwanzig. Zehn ganze Jahre, Baby. Was diskutiere ich mit einem Fünfzehnjährigen? 

Natur: Du weißt, warum. Du findest mich süß.

(Definitiv nicht pädophile) Frau: Du bist ein Baby!

Baby: Rrrr.

Mutter: Hier. *Schnullerreinstopfsound*

Scheisse, dachte sie, Nax. War sie wirklich eine Zivilisationsrassistin? Altersdifferenzrassistin? Fand sie Schnürchen süß, egal auf welche Weise? So, wie man einHündchen niedlich fand (da war es wieder), ein Rehkitz auf langen, dünnen Wackelbeinchen? Aber nach dem, was er grade abgezogen hatte? Nein. Null. Selbst, wenn es rechtlich irgendwie okay wäre, was ihr nicht so aussah: Was konnte man mit einem Fünfzehnjärigen anfangen? 

Mit einem B a b y ?

Ein Massagestuhl, dachte sie.
Ein verdammter münzbetriebener Hybrid aus Möbel und Maschine, der den armen Bäcker lockern und entspannen sollte. Stattdessen brachte er den Tod.

Und hier lief sie jetzt, durch den klabuleker Abend, die Introjekten ihrer Stadt tief in sich verbuddelt, das Traumatisierte, Schizophrene und Narzistische. Das Land kannte vielleicht zwei.

In zehn Minuten wär sie auf dem Hof von P und M. Sie verspannte sich, je näher sie kam. Die Landschaft schien zu atmen, ein Vorgang, den man spürte, wenn man stehenblieb. 

Deshalb: Weitergehen. Handy raus. „Mama,  entschuldige, ich weiß, es ist spät. Ich wollte nur bescheid sagen, dass ich doch morgen schon zurück bin. Ich komm direkt zu dir, okay? Darf ich noch mal bei dir waschen? Nein, nee, mir geht’s gut. Ach was, mach dir keine Sorgen Mama, die sind alle nett zu mir. Nein, niemand hat hier irgendwas versucht. Wie kommst du darauf? Nein, nichts ist hier falsch. Ich muss weiter. Ich dich auch Mama, bis morgen.“

Wissen Sie, ich spüre es. Ihr Schnauben, ihr Stirnrunzeln. Diese einseitig hochgezogene Braue, ich spüre das förmlich. Wie Sie einwenden: Absoluthat jemand was versucht, absolutwar da irgendetwas falsch. Aber falls es Ihnen noch nicht klar ist: Ich bin nicht die unzuverlässige Erzählerin für die Sie mich halten, nur weil die Person, über die ich berichte, ihre Mutter anlügt. Um selbige zu schützen, wohlgemerkt, um die gerechtfertigten mütterlichen Sorgen abzumindern.

Ich weiß genau, warum Sie so empfinden. Ich merke, wie Sie mir diese Sache mit Schnürchen ≠ Hündchen nachtragen. Aber wissen Sie was? Das geht auf Ihre Kappe. Ich habe zu keinem Zeitpunkt geäußert, dass Schnürchen etwas anderes sei als menschlich. Im Gegenteil, ich habe das anfangs kategorisch ausgeschlossen. Falls Sie sich also selbst vom Gegenteil überzeugt haben, liegt das ganz allein bei Ihnen.
Ich hoffe nur, Ihre Suggestibilität bringt Sie nicht irgendwann in Schwierigkeiten. 
Ich habe das weißgott genug erlebt. 

Bleiben Sie wachsam.

III 

Als Klara

am Hof von P und M ankam, wirkte der verlassen. Es war mittlerweile Nacht, doch die Fenster waren unbeleuchtet, die Außenlichter aus. Es sah so aus, als stand die Haustür… offen?


(Ende des Auszugs. Die vollständige Geschichte findet ihr in meinem kommenden Kurzgeschichtenband. Wenn ihr informiert werden wollt, wann der erscheint, schreibt mir eine kurze Mail mit dem Betreff „Kurzgeschichten“, dann setze ich euch auf die Mailingliste. Kein Spam. Versprochen. Und danke fürs Lesen.)

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